Das Ayurmantra aus dem Taittiriya-Aranyakam (4.2) ¹ ist ein beliebtes Sanskritmantra, wenn es darum geht, sich mit dem Vedischen Gesang, oder Vedic Chant zu befassen.² Es ist vom Inhalt auf den ersten Blick scheinbar leichter verständlich als viele andere vedische Textverse.
In der originalen Devanagari-Sanskritschrift sieht das Mantra folgendermaßen aus:
ॐ आयुर्धेहि प्राणं धेहि आपानं धेहि व्यानं धेहि चक्षुर् धेहि श्रोत्रं धेहि
मनो धेहि वाचं धेहि आत्मानं धेहि प्रतिष्ठां धेहि मां धेहि मयि धेहि
In der Umschrift zum Mitlesen und Mithören:
om āyurdhehi prāṇaṁ dhehi āpānaṁ dhehi vyānaṁ dhehi cakṣur dhehi śrotraṁ dhehi
mano dhehi vācaṁ dhehi ātmānaṁ dhehi pratiṣṭhāṁ dhehi māṁ dhehi mayi dhehi³
Eine moderne Übersetzung des Ayurmantra:
Möge mein Leben genährt werden.
Möge die aufwärts sich bewegende Energie genährt werden.
Möge die abwarts strömende Energie genährt werden.
Möge die zirkulierende Energie genährt werden.
Möge mein Sehen genährt werden.
Möge mein Hören genährt werden.
Möge mein Denken genährt werden.
Möge meine Rede genährt werden.
Möge meine Seele genährt werden.
Möge ich in diesem genährten Zustand verbleiben.
Möge ich selbst genährt werden.
Möge diese Nahrung und Erhaltung zum Wohle anderer sein.
Zur Bedeutung des Wortes „dhehi“:
Beim Lesen und Hören der Worte fällt sehr schnell das immer wiederkehrende Wort „dhehi“ ins Auge. Grammatikalisch handelt es sich dabei um den Imperativ in der zweiten Person des Verbs „dhā“. Dieses Verb bedeutet so viel wie „setzen, platzieren, erweisen oder gewähren“.
Genau genommen spricht also der Rezitierende wiederholt aus:
Gewähre du Leben, gewähre Lebensenergie in Form von prāṇa, āpāna und vyāna. Gewähre das Sehen, das Hören, das Denken und Reden, gewähre die innere Seele und das äußere feste Stehen, gewähre dies für mich und für die anderen.“
Üblicherweise wird die Mantrarezitation des Ayurmantra von Gesten begleitet, die erst die Bewegungsrichtungen der Pranaformen andeuten, und dann auf die verschiedenen Körperglieder verweisen, die mit dem Mantra benannt werden. Die Gesten und die Rezitation sind von dem Gedanken begleitet, einen Schutz im Sinne des „Genährtseins“ für sich zu erwirken. Betrachtet man hingegen die mehr am wörtlichen Sinn angesetzte Übertragung des Textes, so entsteht eher der Eindruck einer frommen Hinwendung an ein „Du“ und eines Gedenkens an „die anderen“. Je nach der Auslegung des Wortes „dhehi“ wechselt also die Beziehungsrichtung des Mantra und der moderne Rezitierende muss für sich eine Entscheidung treffen, in welcher Weise er den Inhalt des Mantra erfassen möchte.
Anmerkungen und Textquellen:
(1) Das Buch Taittiriya-Aranyaka ist der dritte Teil des sogenannten Schwarzen Yajurveda. Da die Veden zur ältesten überlieferten Literatur weltweit gehören und außerdem sehr umfangreich sind, kann man sich wohl nur sehr vorsichtig an ein Verständnis der wohlklingenden Worte herantasten.
(2) Auf der Seite Vedic Heritage findet sich eine traditionelle Rezitation des Taittiriya Aranyaka. Man beachte die große Wachheit, sprachliche Formkraft und Konzentration des rezitierenden Brahmin.
(3) Zu den Lautzeichen:
- ein Strich über dem Vokal kennzeichnet die doppelte Länge des Vokals
- ein Punkt über oder unter einem „n“ oder „m“ kennzeichnet eine mehr nasale Aussprache des Lautes
- die beiden „s“-Laute mit Sonderzeichen werden als „sch“ artikuliert
- der Punkt unter dem „t“ kennzeichnet einen Retroflexlaut, bei dem die Zunge nach innen eingerollt wird
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