Rezension der Erzählungen zweier Autoren, die sich in den „Nachstieg von Viktor Frankl“ begeben haben.
Für die Entstehung des vorliegenden Buches haben sich zwei Männer zu einer Seilschaft zusammengeschlossen: Michael Holzer setzt sich als Berater und Coach mit der Frage nach Sinnperspektiven für seine Kunden auseinander. Klaus Haselböck ist Gründungs- und Chefredakteur der Zeitschrift Bergwelten und Autor zu Alpinthemen. Gemeinsam sind sie den Lebensspuren und den Bergerlebnissen von Viktor Frankl, dem großen Wiener Psychiater, nachgestiegen.
In sieben Kapiteln widmen sie sich den biographischen Lebensabschnitten von Viktor Frankl und zugleich den Bergen, an denen er zum Klettern unterwegs war: Von der Mizzi-Langer-Wand bei Wien über den Peilstein, die Hohe Wand und die Rax bis zum Schneeberg, dem Dachstein und die Große Zinne in den Dolomiten. So ist ein harmonisches Werk entstanden, das dazu anregt, die Liebe zu den Bergen inhaltlich zu vertiefen, ohne dabei zu abstrakt oder zu psychologisierend zu werden. Den letzten Teil des Buches bildet eine Hinführung zu Person und Werk von Viktor Frankl aus der Feder von Elisabeth Lukas, seiner bedeutendsten Schülerin.
Die Selbstermächtigung zum Sinn ebenso wie zum Berg
Auf sympathische Weise verflechten die beiden Autoren ihre Erlebnisse im Nachstieg der Lieblingsrouten von Viktor Frankl mit biographischen Notizen aus dessen Leben und philosophischen Betrachtungen zum Berg und zum Sinn des Lebens. Ein interessanter Begriff wird im zweiten Kapitel thematisiert und zwar geht es dort um die Selbstermächtigung, die der junge Viktor Frankl innerlich in der Arbeit an sich selbst und äußerlich mit dem Klettern erlebt hat. Die Autoren zitieren Frankl selbst dazu:
Ich glaube, man könnte sagen, dass ich meine Lehre zunächst einmal für mich entwickelt habe. Man sagt ja für gewöhnlich, dass jeder, der ein System der Psychotherapie begründet hat, letzten Endes seine eigene Krankengeschichte geschrieben und darin niedergelegt hat. Man weiß, dass Sigmund Freud an kleineren Phobien gelitten hat, man weiß, dass Alfred Adler darunter gelitten hat, dass er als Kind nicht besonders kräftig und gesund war. So kam Freud zu seiner Lehre vom Ödipuskomplex und Adler zu seiner Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl. Ich muss sagen, dass ich keine Ausnahme von dieser Regel bin. Ich bin mir dessen bewusst, dass ich als junger Mensch in den Reifejahren sehr mit dem Gefühl zu ringen hatte, dass letzten Endes doch vielleicht alles gänzlich sinnlos sei. Und dieses Ringen hat dann schließlich zu einem Sich-Durchringen geführt. Und ich habe gegen den eigenen Nihilismus ein Gegengift entwickelt.¹
Und dieses „Gegengift“ war die tiefe Überzeugung, dass dem Leben ein Sinn innewohnt, der von jedem auf individuelle Weise entdeckt werden kann. Seine Selbstermächtigung im Klettern erreichte Frankl allerdings nicht ohne einen Mentor, und zwar Rudi Reif. Von ihm lernte er nicht nur die Klettertechniken bis hin zum Bergführerabzeichen, sondern auch die mentalen Fähigkeiten, an denen es einem Alpinisten nicht mangeln sollte, wie „Risikobereitschaft, Mut und Konzentration.“
Eine andere Episode aus dem Leben von Viktor Frankl greifen die beiden Autoren auf, als sie von seiner Verbindung zu Giselher Gutmann berichten, dem damaligen Dekan der philosophischen Fakultät in Wien. Zwar hätten beide eine Leidenschaft für die Berge besessen, aber der Dekan Gutmann war aufgrund eines Versprechens gegenüber seinem Vater noch nie beim Klettern gewesen. Bis eines Tages Viktor Frankl ihn zu einer gemeinsamen Begehung des Drei-Enzian-Steiges einlud. Damit war der Bann gebrochen und Gutmann ermächtigte sich sozusagen selbst, seiner Leidenschaft Folge zu leisten.
Vertrauen auf den unabänderlichen Sinn des Lebens
Mit diesem Buch stellen die Autoren eine Verbindung zwischen Bergliebhabern und der Person Viktor Frankls her. Der Leser begreift, wie die Schaffenskraft in der Begründung einer neuen psychotherapeutischen Richtung ohne die Bergerlebnisse für Viktor Frankl nicht möglich gewesen wäre. Über den Zugang zur Person Viktor Frankl findet man so leichter den Einstieg zu seinen psychologischen Themen, wo er sich ja durchaus auf wissenschaftlichem Niveau bewegt. Das ganze Werk Viktor Frankls ist aber gerade angesichts der Coronakrise hoch aktuell, denn vielleicht wurde die Frage nach dem Sinn des Lebens noch nie so deutlich erlebt, wie in diesen Zeiten, wo vielen Menschen ihre sinnvolle Betätigung genommen wird.
Als junger Student hatte Viktor Frankl eine spezielle Beratungsmöglichkeit zum Moment der Zeugnisverteilung in Wien organisiert und hatte es damit geschafft, dass es das erste Jahr wurde, in dem es keine Schülerselbstmorde gegeben hatte. Auch heute steigen die Selbstmordzahlen an und rütteln auf, dem Leben unter allen Umständen seinen Sinn abzuringen.
Ein empfehlenswertes Buch also, für Bergliebhaber, für Sinnsucher und für Menschen, die sich für Viktor Frankls Logotherapie interessieren.
Spiritueller Wert 2/5
Praktischer Wert 5/5
(1) S. 37/38
Michael Holzer + Klaus Haselböck, Berg und Sinn, Im Nachstieg von Viktor Frankl, Bergwelten Verlag 2020, ISBN 9783711200044
Das Buch kann online erworben werden unter anderem auf den Seiten: derbuchhaendler.at, Thalia.at, suedwind-buchwelt.at.
Bildquellennachweis (21-04-01): derbuchhaendler.at