Rezension der tiefenpsychologischen Studie über die vier unterschiedlichen Grundformen der Angst beim Menschen.
Für dieses Werk bräuchte es eigentlich gar keine Rezension, denn es ist bereits ein „Klassiker“ innerhalb der Psychotherapie geworden. Angesichts der Coronakrise und der davon hervorgerufenen enormen Angstwellen in der gesamten Bevölkerung, lohnt es sich meines Erachtens jedoch, gerade dieses Buch in den Mittelpunkt des Interesses zu rücken.
Der Autor, Fritz Riemann (1902 – 1979) hat eine interessante Biographie, als deren Höhepunkt tatsächlich das vorliegende Werk hervorgegangen zu sein scheint. Ursprünglich aus gutem Hause hätte er zunächst die väterliche Lampenfirma in Chemnitz übernehmen sollen, hat sich aber schon bald für ein Psychologiestudium in München entschieden. Da ihm jedoch die damalige Vorgehensweise, sich vorwiegend mit psychologischen Experimenten zu betätigen, nicht zusagte, beendete er das Studium vorzeitig. Verheiratet mit einer Ärztin, die für seinen Lebensunterhalt aufkommen konnte, war es ihm indes möglich, sich im privaten Studium das Wissen anzueignen, das ihn interessierte. So kam er zur Psychoanalyse und zur Astrologie, denen er sein zukünftiges Leben widmen sollte. 1934 ließ er sich in beiden Disziplinen ausbilden, doch bereits 1936 kam die Ordnung ins Wanken, als seine Psychoanalyselehrerin wegen ihrer jüdischen Herkunft nach Amerika emigrierte. In den folgenden Jahren begann er selbst bereits Psychoanalyse zu praktizieren, wobei er sich weiterhin persönlich fortbildete. 1943 wurde er als Sanitäter zum Militär eingezogen und kam schließlich 1945 nach München, wo er das Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie mit begründete. Sein Werk über die Grundformen der Angst erschien im Jahr 1961, also nach 25 Jahren des Erfahrung Sammelns in der Psychoanalyse.¹
Das Buch ist äußerst klar strukturiert: Zwischen einer Einleitung und einer Schlussbetrachtung finden sich vier Kapitel mit Beschreibungen der schizoiden, depressiven, zwanghaften und hysterischen Persönlichkeit. Alle Kapitel weisen dieselbe Struktur auf und enthalten zunächst eine allgemeine Beschreibung, wonach sich der Autor jeweils den Aspekten der Liebe, der Aggression und des lebensgeschichtlichen Hintergrundes der jeweiligen Angstpersönlichkeit zuwendet und Beispiele aus seiner Praxis dazu schildert.
Die Angst gehört zum Leben dazu
Geht man einmal vom gewöhnlichen modernen Bildungswissen aus, so dürfte wohl das Phänomen der Depressionen heute einem jeden Bürger bekannt sein. Auch ihr Gegenbild, die Hysterie, oder Manie ist noch recht geläufig, während der zwanghafte und der schizoide Mensch in der öffentlichen Diskussion weit weniger Beachtung finden. Das große Verdienst von Fritz Riemann ist es nun, anhand der vier Angsttypen zugleich vier Menschentypen zu charakterisieren, die zu den jeweils ihrem Naturell naheliegenden Ängsten tendieren. Das heißt, der Leser lernt mit dieser Lektüre – und sie ist wahrlich nicht wissenschaftlich anstrengend geschrieben -, dass die Angst als Phänomen zur Menschheit dazu gehört.
Damit lautet die Fragestellung für jeden Einzelnen nicht, wie werde ich meine Angst los?, sondern vielmehr, wie gehe ich mit meiner Angst möglichst konstruktiv um? Allein die Änderung des Blickwinkels in diese Richtung kann eine große Ordnung in das Leben hineinführen.
Der Beschreibung der vier Angsttypen legt Riemann eine astrologische Gesetzmäßigkeit zugrunde, indem er auf die vier Kräfte im Kosmos, die Fliehkraft, die Schwerkraft, die Rotation und die Eigendrehung verweist. Diese vier, für jeden nachvollziehbaren Bilder geben den Verständnisrahmen für die nachfolgenden Beschreibungen. Nehmen wir zur Veranschaulichung einmal die bekannteste Angstform, die Depression. Ihr weist der Autor die Kraft der Rotation zu und schildert:
Je weniger wir gelernt haben, unser Eigen-Sein, unsere Selbständigkeit zu entwickeln, umso mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche. Daher muss der Versuch, sich gegen die Verlustangst dadurch zu sichern, dass man immer mehr von sich aufgibt, scheitern, ja das Gegenteil bewirken. Denn wer sein Ich nicht stark entwickelt, braucht ein stärkeres Ich draußen als Halt, von dem er immer abhängiger wird, je schwächer er selbst bleibt. Wer aber so abhängig wird, muss eine immerwährende Angst haben, diesen Halt zu verlieren – hat er doch alles auf den anderen gesetzt, an ihn so viel delegiert, dass er ohne ihn nicht lebensfähig zu sein glaubt, weil seine Existenz ganz im anderen ruht. Depressive Menschen suchen daher die Abhängigkeit, die ihnen Sicherheit zu geben verspricht; mit der Abhägigkeit steigert sich aber die Verlustangst; daher wollen sie so dicht wie möglich am anderen haften, reagieren deshalb schon bei kurzen Trennungen mit Panik. So kommt es zu dem hier typischen Teufelskreis, der nur im Wagnis der Ich-Werdung, des autonomen Subjekt-Seins durchbrochen werden kann.²
Im Bilde gesprochen: der Depressive rotiert um eine andere Person und verliert sich dabei. So wie die Erde sich täglich um sich selbst dreht, sollte er lernen, seine Einmaligkeit zu bejahen und sich gegen andere abzugrenzen. „Riskieren wir […] nicht, uns zu eigenständigen Individuen zu entwickeln, bleiben wir zu sehr im Kollektiven, im Typischen stecken und bleiben unserer menschlichen Würde etwas Entscheidendes schuldig.“³
Praktisch angewandte Tiefenpsychologie
An den beiden Zitaten kann man leicht den Charakter des Buches erkennen: Hier handelt es sich um einen Versuch, Tiefenpsychologie praktisch und anschaulich werden zu lassen. Eine gewisse mentale Auseinandersetzung mit den von Riemann zugrunde gelegten Bildern der planetarischen Kräfte wird durchaus vom Leser verlangt. Lässt dieser sich aber darauf ein, so kann er sehr wertvolle Einsichten für das ganze Leben gewinnen, denn er kann Menschentypen und Angsttypen leichter erkennen und Ideen finden, wie damit umzugehen ist. Genauso kann er sich selbst besser einschätzen lernen und sich auf einen inneren seelischen Entwicklungsweg begeben, der immer zu einer integrativen, autonomen und sozialfähigen Persönlichkeit führen wird.
Die Strategie der Regierungen, der Corona-Pandemie mit dem Schüren von Ängsten im Volk zu begegnen, funktioniert leider nur allzu gut. Die Lektüre von Fritz Riemanns Grundformen der Angst kann in dieser Situation helfen, nicht beim Phänomen Angst stehen zu bleiben, sondern einen Aufruf zur Entwicklung darin zu sehen. So wäre es denkbar, dass aus einer sehr schlimmen Situation tatsächlich bessere Voraussetzungen für die Zukunft erwachsen.
Das Buch ist somit all jenen zu empfehlen, die heraustreten wollen aus dem lähmenden Abwarten und die negative, mit der Pandemiesituation verbundene Energie in einen positiven Entwicklungsschub umwandeln wollen.
Spiritueller Wert 4/5
Praktischer Wert 5/5
Anmerkungen:
(1) de.wikipedia.org
(2) S. 61/62
(3) S. 13
Fritz Riemann, Grundformen der Angst, Eine tiefenpsychologische Studie, kartoniert, Verlag Reinhardt 2019, ISBN 978-3-497-02422-3.
Das Buch kann online erworben werden auf den Seiten derbuchhaendler.at, Thalia.at, suedwind-buchwelt.at. Es ist mittlerweile auch als ebook und in Hardcover erhältlich.
Bildquellennachweis (21-04-09): derbuchhaendler.at