Dhāraṇā, die Konzentration, ist die Basis für die Meditation.
Eine Kursteilnehmerin meinte einmal etwas überrascht und enttäuscht: „Das kann doch wohl nicht möglich sein, dass es mir so schwerfällt, mich fünf Minuten auf die Worte des Lehrers zur Anleitung der Meditation zu konzentrieren!“ Gerade der moderne Lebensrhythmus raubt leider oft die Kraft zur Konzentration und die bei Kindern und Erwachsenen sich zeigende Aufmerksamkeits-Defizits-Störung ADHS ist wohl ein Ausdruck dafür. Ganz aktuell ist es die verwirrende Berichterstattung über die Corona-Situation zusammen mit der übertriebenen Einschränkung der Grundrechte, die meiner Beobachtung nach bei vielen Menschen zu einer Schwächung der inneren Zentrierung führt. Dhāraṇā, die Konzentration, ist die 6. Stufe im Raja-Yoga¹ und eine sehr wichtige Disziplin.
Die traditionelle Konzentrationsübung im Yoga
In dem sprachlich sehr komprimierten Yoga Sutra des Patanjali, dem wichtigsten Basistext des Raja-Yoga wird die Konzentration mit folgenden wenigen Worten beschrieben:
deśa-bandhaḥ cittasya dhāraṇā – „dhāraṇā ist das Binden des Geistes an einen Punkt.“ (III,1)²
In einer erweiterten Übersetzung von Swami Sivananda heißt es:
Konzentration bedeutet, den Geist stabil und für längere Zeit auf eine Form oder ein Objekt zu halten. Konzentration ist das Fixieren des Geistes auf ein äußeres Objekt oder auf ein inneres Chakra oder auf eine abstrakte Idee, wie z.B. „aham brahma asmi“.
Und weiterhin erläutert Swami Sivananda die Konzentrationspraxis:³
Übt Konzentration. Wenn ihr euch darum bemüht, den Geist zu konzentrieren oder einen Gedanken zu formen, werdet ihr bemerken, dass ihr ein (Vorstellungs-)bild braucht. Es ist nicht möglich, nichts zu tun. Fixiert also den Geist auf ein Objekt oder auf eine Idee. Zieht den Geist immer wieder zurück und sammelt ihn jedesmal, wenn er sich von dem Objekt entfernt und konzentriert ihn dort. Gestattet ihm nicht, hundert verschiedene Gedankenformen zu kreieren. Blickt nach innen und beobachtet aufmerksam euren Geist. Lebt allein, vermeidet die Gemeinschaft, mischt euch nicht unter andere Leute. Das ist wichtig. Erlaubt dem Geist nicht, seine Energie sinnlos in dummen Gedanken, diffusen Sorgen, leeren Ideen und falschen Ahnungen zu vergeuden. Haltet während der Konzentrationspraxis den Geist für eine halbe Stunde auf einen Gedanken konzentiert. Sorgt dafür, dass der Geist sich an einer Form orientiert und mit länger andauernder Praxis versucht, diese Form über mehrere Stunden zu bewahren.
Vor allem die Worte „Lebt allein, vermeidet die Gemeinschaft.“ klingen für moderne Ohren natürlich radikal und sind wohl auch in unserer Kultur nicht auf gesunde Weise praktizierbar. Dennoch klingt aus diesem Abschnitt von Swami Sivananda heraus, dass die Fähigkeit zur Konzentration auch etwas mit dem Alltagsleben zu tun hat. Wer ein sehr ausschweifendes Leben führt, hat demnach wenig Chancen, eine gute mentale Konzentrationskraft im Sinne des Yoga zu entwickeln. Falls Sie, lieber Leser, aber zufällig bereits seit mehreren Jahren einen Yogastil praktizieren, dann ist Ihnen sicher der Umstand bekannt, dass fast wie automatisch eine größere Zielstrebigkeit und der Wunsch nach einer sinnvoll gestalteten Lebensführung parallel zur Yogapraxis zunimmt.
Jedenfalls findet man in den Worten von Swami Sivananda die traditionelle Yoga-Konzentration sehr gut zusammengefasst. Die Unterschiede verschiedener Yogastile bestehen dabei heute vor allem in der Auswahl des Konzentrationsobjektes. Man kann die Betonung mehr auf ein bestimmtes Mantra oder Chakra legen, man kann sich auf Licht oder Naturobjekte konzentrieren oder eben auf bestimmte meditative Vorstellungen und Ideen.
Die Konzentration in drei Stufen nach Heinz Grill
In dem sehr empfehlenswerten Buch „Übungen für die Seele“4 von Heinz Grill findet sich eine Beschreibung der Konzentrationsübung in drei Stufen, die ich im Folgenden zusammengefasst wiedergeben möchte. In diesem Zusammenhang wird die Konzentration als Möglichkeit zur Entwicklung einer tieferen Erkenntnis über ein Objekt, über einen Menschen oder über einen Lebensumstand praktiziert.
Heinz Grill stellt der eigentlichen, wie von Swami Sivananda beschriebenen Konzentrationsphase eine sogenannte „Konsolidierungsphase“ voraus. Diese Phase vergleicht er mit der materiellen Ebene, da sie erst einmal eine Art Stoffsammlung darstellt. Wer sich zum Beispiel vornimmt, eine unmittelbare Erfahrung zu erleben, wie eine bestimmte Pflanze mit der Seele des Menschen in Verbindung steht, wird sich in dieser ersten Phase zunächst einmal über die botanische Einordnung der gewählten Pflanze informieren. Er wird des Weiteren die Pflanze an ihrem Ort des Wachstums aufsuchen und sie ganz genau in ihrer Erscheinung wahrnehmen. Vielleicht ist es eine Pflanze, die in bestimmter Literatur Erwähnung findet, die einen Symbolgehalt vermittelt oder in fremden Kulturen eine bedeutende Rolle spielt. Die Stoffsammlung dient dazu, dass nach und nach ein inneres Vorstellungsbild zu der Pflanze reift (siehe Sivananda: man braucht ein Bild dessen, worauf man sich konzentriert.)
Am Ende der getätigten Stoffsammlung wird sich die Person der Frage noch einmal deutlich bewusst, die sie tiefer ergründen möchte, also z. B.
Wie steht diese Pflanze mit der Seele des Menschen in Verbindung?
Die klare Fragestellung ist wichtig, denn aus ihr erwächst später die zentrierende Kraft, die der Erkenntnis den Weg bereitet.
Den Abschluss der Konsolidierungsphase bildet schließlich die Hinzunahme eines weisheitsvollen (auch „imaginativ“5 genannten) Gedankens zu dem innerlich geschaffenen Vorstellungsbild. In diesem Fall eignet sich dazu sehr gut eine Aussage von Edward Bach, dem Begründer der Bachblütentherapie, zu der besagten Pflanze. Edward Bach hat sein Leben mit genau diesem Studium des Zusammenhangs zwischen den Pflanzen und der Seele des Menschen zugebracht und ist dabei zu sehr tiefgründigen und wertvollen Erkenntnissen vorgedrungen.6 Man darf nämlich nicht dem Denkfehler verfallen, dass man die gewünschte Erkenntnis aus sich selbst heraus hervorbringen kann. Eine Erkenntnis ist immer etwas Neues und kann deshalb nicht aus dem bisherigen intellektuellen Wissen genommen werden. Die Anforderung in der Übung ist vielmehr diejenige, dass eine Aussage wie von Edward Bach nicht einfach nur intellektuell aufgenommen wird, sondern dass sie im Ablauf der Konzentrationsübung zur eigenen Erkenntnis und zum seelischen Erleben gebracht wird.
Die Intensivierungsphase führt zur Konzentration
Erst wenn man also all diese Informationen gesammelt und eine lebendige Frage kreiert hat, geht man zu der sogenannten Intensivierungsphase oder der eigentlichen Konzentrationsphase über. Heinz Grill nennt diese Phase eine seelische, da der Erfolg ganz wesentlich davon abhängt, dass man tatsächlich die ganze seelische Kraft in dieses eine Vorstellungsbild und die dazugehörige Frage hineinlegt. Es wird nicht funktionieren, wenn man bei einer Art Pflichtübung stehenbleibt. Dies ist umso wichtiger, wenn nun die Übung über einen Zeitraum von vielleicht sechs Tagen wiederholt wird. Dann muss man jeden Tag neu das Vorstellungsbild aufbauen, bevor man zur Konzentration schreitet, „so wie der Maurer den Mörtel jeden Tag aufs Neue anrührt.“7
Jetzt beginnt die harte Arbeit, sich mit dem eigenen Bewusstsein auseinanderzusetzen, das ständig abschweifen möchte oder müde wird oder vorschnelle „Erleuchtungserlebnisse“ produziert oder das Interesse verliert und, und, und… Wem es gelingt, wirklich eine halbe Stunde bei der Sache zu bleiben, der hat bereits eine sehr gute Konzentrationskraft entwickelt. Aber man darf sich bei einer solchen Übung nicht vom Erfolg abhängig machen, denn gerade das ausdauernde Bemühen stärkt die Bewusstseinskraft. In der traditionellen Yoga-Meditation wird sehr oft die Konzentration auf das sogenannte dritte Auge, dem Punkt zwischen den Augenbrauen an der Stirn, praktiziert. Dies ist auch der Ort des sechsten Energiezentrums, ājña-cakra. Die Bewusstseinskraft, die das ājña-cakra symbolisiert, kann nun innerhalb der Konzentrationsübung zur direkten Erfahrung werden. Immer deutlicher erlebt der Praktizierende den Unterschied von den aus dem persönlichen gewohnten Bewusstsein aufsteigenden Gedankenformen zu dem im Vorstellungsbild und der imaginativen Aussage inneliegenden Gedanken. Tatsächlich zeichnet sich die Bewusstseinskraft dadurch aus, dass man fähig wird „stabil und für längere Zeit“ die Aufmerksamkeit in einen Gedanken zu legen, der nichts mit den bisherigen Denkgewohnheiten zu tun hat.
Die dritte Phase nun wird von Heinz Grill die „Meditationsphase“ genannt und entspricht der geistigen Ebene. Dahinter liegt das Verständnis, dass eine gesuchte Wahrheit sich aus dem Objekt selbst ausspricht. Der tiefere Sinn der Konzentration ist in diesem Sinne, zu lernen, die persönlichen Regungen zurückweichen zu lassen, damit das Bewusstsein frei wird, um die im Konzentrationsobjekt liegende Realität wahrzunehmen. Es tritt eine Unterscheidung ein zwischen dem persönlichen Bemühen in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen auftretenden Bewusstseinsströmen, den Assoziationen, den vorschnellen Urteilen, usw., und dem tatsächlichen Wesen der betrachteten Pflanze. Wann, wie und unter welchen Umständen die wahre Erkenntnis über den Zusammenhang der Pflanze mit dem menschlichen Seelenleben eintritt, kann von niemandem vorhergesehen werden. Heinz Grill benutzt hier den christlichen Begriff der Gnade, die hereinkommt. Im Sinne des Yoga könnte man vielleicht das Bild der Shiva-Kraft verwenden, die sich von oben herabsenkt, um sich mit der Kundalini-Shakti8 des Schülers zu vereinen.
Da nun diese Beschreibung der drei Phasen in der Konzentration auf eine etwas technische Weise formuliert ist, möchte ich noch hinzufügen, dass die Ausführung einer solchen Übung wesentlich mehr beinhaltet als eine Art Neugierde nach neuen Erkenntnissen. Dadurch, dass die körperliche, seelische und geistige Ebene im Übungsaufbau enthalten ist, kann die praktizierende Person unabhängig vom Gesamterfolg der Übung zu ganz wertvollen Erfahrungen und seelischen Erlebnisse kommen, die sich mit einer inneren Kraft und Zentrierung im Alltagsleben bemerkbar machen. Auf Umwegen sozusagen, und ohne Absonderung von den Mitmenschen, kommt man dazu, weniger Lebensenergie sinnlos zu vergeuden, wie Swami Sivananda es mit drastischen Worten einfordert.
Anmerkungen und Textquellen:
(1) Der klassische Pfad des Raja-Yoga besteht aus den acht Stufen: Yama (Lebensregeln), Niyama (Verhaltensanweisungen), Asana (Körperübungen), Pranayama (Atemtechniken), Pratyahara (Rückzug der Sinne), Dharana (Konzentration), Dhyana (Meditation) und Samadhi (Erleuchtung).
(2) deśa = der Punkt im örtlichen und übertragenen Sinn, z.B. als lokaler Ort oder inhaltliches Argument
√diś = die Wortwurzel diś bedeutet „zeigen“ und ist in dem Wort deśa enthalten
bandhaḥ = das Binden
cittasya = des Geistes
dhāraṇā = das Halten, das Bewahren
√dhṛ = halten
(3) übersetzt aus: Swami Sivananda, MIND – its Mysteries and Control, The Divine Life Society 2009, ISBN 978-8170520061
(4) Heinz Grill, Übungen für die Seele, Die Entwicklung eines reichhaltigen Gefühlslebens und das Erlangen erster übersinnlicher Erkenntnisse, Synergia Verlag 2016, ISBN 9783906873336
(5) Imagination, Inspiration und Intuition sind nach Rudolf Steiner drei Stufen übersinnlicher Erkenntnis. Imaginative Texte bilden die Wirklichkeit in Verbindung mit den kosmischen Gesetzmäßigkeiten ab und gehen so über die rein wissenschaftliche Erkenntnis hinaus.
(6) Dr. Edward Bach, Heile dich selbst: die 38 Bachblüten, Goldmann Verlag 1998, ISBN 978-3442141500
(7) Heinz Grill, Ein Neuer Yogawille und seine therapeutische Ansendung bei Ängsten und Depressionen, Synthesia-Verlag 2010, ISBN 9783941995888
(8) siehe dazu auch die Artikel-Serie über Kundalini-Yoga: Der Kundalini Yogi als lebendig Befreiter im Selbst
Bildquellennachweis (20-12-07): Bleiwurz-Bild von Oldiefan auf pixabay, Swami Sivananda-quotationof.com, Dr. Edward Bach-plantea.com.hr, Übungen für die Seele-derbuchhaendler.at