Rezension der Einführung in Rudolf Steiners geisteswissenschaftliches Pathologie- und Therapieverständnis.
Der im Jahr 1963 geborene Arzt Peter Selg kann als Spezialist für die ideelle Grundlegung einer Anthroposophischen Medizin im Werk Rudolf Steiners¹ angesehen werden.
Neben vielen größeren monographischen Werken hat er mit dem vorliegenden Buch eine auch für medizinische Laien verständliche Einführung geschrieben. In zwei großen zentralen Abschnitten schildert er anhand von Zitaten aus dem Werk Rudolf Steiners den Weg und das Wesen der Krankheit wie auch der Heilung.
Wichtiger als der Krankheitserreger ist der Mutterboden
Vorausschickend betont der Autor, dass Rudolf Steiners geisteswissenschaftlicher Beitrag zur Humanmedizin …in einer neuen medizinischen Denkweise besteht, die das individuelle Sein des Menschen in Gesundheit, Krankheit und Heilung… in einem gegenüber dem herrschenden Paradigma veränderten Licht erscheinen lassen.
Dies geschieht durch eine Veränderung des Blickwinkels vom symptomatischen Denken zum substantiellen Inhalt des Krankseins. Interessant ist, dass Rudolf Steiner diesen Grundgedanken seines medizinischen Verständnisses mehrfach gerade anhand der Bazillentheorie, also an den damals gerade aufkommenden Forschungen zu den Krankheitserregern, veranschaulicht hat:
Es ist schon wirklich eigentlich schrecklich, wenn man heute an die Prüfung der pathologischen Literatur herangeht und bei jedem Kapitel aufs Neue darauf stößt: für diese Krankheit ist der Bazillus entdeckt, für jene Krankheit ist der Bazillus entdeckt und so weiter. Das sind alles außerordentlich interessante Tatsachen … aber für das Kranksein hat das keine andere Bedeutung als höchstens die eines Erkennungszeichens, eines Erkennungszeichens insofern nämlich, als man sagen kann: Wenn die oder jene Krankheitsform zugrunde liegt, so ist im menschlichen Organismus die Gelegenheit geboten, dass sich diese oder jene interessanten kleinen Tier- oder kleinen Pflanzenformen auf einem solchen Unterboden entwickeln, aber sonst weiter nichts. …Man sieht aus der Anwesenheit dieser interessanten Geschöpfe nichts weiter, als dass ein guter Mutterboden da ist, und auf die Betrachtung dieses Mutterbodens hat man selbstverständlich die Aufmerksamkeit zu richten.“ ²
Aus dem ätherischen Organismus des Menschen entsteht die Gesundheit
Sehr ausführlich erfährt der Leser auch verschiedenste Zusammenhänge, die das Schicksal, bzw. mit dem Sanskritbegriff, das Karma des Menschen hinsichtlich der Erscheinung von Gesundheit und Krankheit betrifft. Bereits die Grundauffassung von Rudolf Steiner zu dem Wesen des Schicksals ist hierzu sehr aufschlussreich:
Wie wirkt denn eigentlich das Schicksal? Das Schicksal wirkt ja so, dass es aus der ganzen Einheit des Menschen heraus wirkt. Was der Mensch sich aufsucht im Leben aus einem Karmadrang heraus, was sich dann schicksalsmäßig gestaltet, das liegt ja daran, dass die Kräfte des Schicksals, die von Leben zu Leben gehen, die Blutzusammensetzug in ihrer Feinheit bewirken und bedingen, dass sie die Nerventätigkeit innerlich regeln, dass sie aber auch die seelisch-instinktive Empfänglichkeit für dies oder jenes anregen.³
Aus dem individuellen Karma- bzw. Schicksalswirken erfolgt auch ein individuelles Verständnis über die Natur der Heilung: „…die Vollzüge der wirklichen Heilung gestalten sich aus den aktiven Möglichkeiten der jeweiligen Inkarnationssituation – aus jenen Möglichkeiten, die im Zusammenhang mit den geistigen Wesensgliedern in der Sphäre der Bildekräfte und Lebensprozesse veranlage sind, in den gesundenden – und in sich ausgesprochen spirituellen – Selbstheilungskräften des ätherischen Leibes.“ Und mit den Worten Rudolf Steiners: „Der bloße physische Organismus könnte niemals einen Selbstheilungsvorgang hervorrufen. Ein solcher wird in dem ätherischen Organismus angefacht. Damit aber wird die Gesundheit als der Zustand erkannt, der im ätherischen Organismus seinen Ursprung hat. Heilen muss daher in einer Behandlung des ätherischen Organismus bestehen.“4
Erweiterung des Horizonts
Bei dem vorliegenden Werk handelt es sicher um keine einfache Lektüre, denn der Leser muss sich sowohl mit einem gehobenen Sprachstil als auch mit geisteswissenschaftlichen Darlegungen konfrontieren. Angesichts des äußerst umfangreichen Gesamtwerks von Rudolf Steiner halte ich das Unterfangen von Peter Selg jedoch als sehr hilfreich und gelungen gerade für Personen, die noch nicht mit anthroposophischem Gedankengut vertraut sind.
Alles in allem ist es angesichts der gegenwärtigen weltweiten Gesundheitskrise hilfreich, das eigene medizinische Verständnis anhand der Ausführungen Peter Selgs und der angeführten Zitate Rudolf Steiners zu erweitern. Vielen Yogapraktizierenden sind Begriffe wie karma und Wiedergeburt bereits geläufig, so dass es naheliegt, die naturwissenschaftlich übliche Vorstellung auch in Hinsicht auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit durch eine umfassendere Sichtweise zu komplettieren.
Spiritueller Wert 5/5
Praktischer Wert 2/5
Quellenangaben:
(1) Rudolf Steiner, Texte zur Medizin, Hrsg. Peter Selg, Rudolf Steiner Verlag
(2) Rudolf Steiner, GA 312, S. 81f
(3) Rudolf Steiner, GA 235, S. 151
(4) Rudolf Steiner, GA 27, S. 24
Peter Selg, Krankheit, Heilung und Schicksal des Menschen, 256 Seiten, Hardcover, Verlag am Goetheanum 2004, ISBN 978-3723512159
Das Buch ist online erhältlich über Amazon.at, Thalia.at, Verlag am Goetheanum.
Bildnachweis (20-04-07): Beitragsbild-Amazon