Nach dem Aufstieg erfolgt der Abstieg.
Vierter Teil über den Kundalini Yoga.
Der Schüler, der sich auf dem Weg des Kundalini Yoga befindet, muss nun lernen, wiederholt die Schlangenkraft zum Aufsteigen zu bringen und sie nach und nach für immer längere Zeiträume im Kronen-cakra, im Zustand der Vereinigung mit dem shiva-Bewusstsein zu halten. Bedenkt man, wie der menschliche Körper eine Emanation des höchsten geistigen Bewusstseins darstellt, dann wird anschaulich, was nach den Schilderungen von Arthur Avalon mit dem Auf- und Absteigen der kundalini shakti geschieht: Die Schlangenkraft absorbiert, „verschlingt“ die in dem jeweiligen cakra vorhandene kosmische Bewusstseinsenergie und ersetzt sie durch ihre eigene Energie. In jedem einzelnen cakra findet also bereits eine Art Vereinigungsvorgang statt. Die Art der Energie ist dabei in den unteren Zentren mehr von gröberem, physischem Charakter und wird nach oben hin zunehmend feiner. Die Schlangenkraft steigt von cakra zu cakra nach oben und nimmt jeweils die Energie des unteren cakra mit. Infolgedessen schließen sich die Blütenblätter des unteren cakra wieder, wenn die kundalini shakti weiter steigt, nachdem sie sich zuvor „durch die belebende Intensität des pranischen Stoffes geöffnet und nach oben gekehrt haben.“ Es ist eine Art Auflösungsprozess, der somit in den unteren cakra stattfindet.
Wenn sich die Schlangenkraft mit dem shiva-Aspekt vereint, enthält sie alle niederen Energie-Ebenen in einem verborgenen potentiellen Zustand. „Bei ihrer Vereinigung fließt Nektar vom Kronen-cakra zum Wurzel-cakra; er überflutet den Mikrokosmos (des Menschen, Alina) und stellt die kosmischen Bewusstseinsaspekte, die devata seiner cakra zufrieden. Jetzt vergisst der Schüler die Außenwelt und ist von unaussprechlicher Seligkeit erfüllt. Jeder Besuch am Brunnen des Lebens schenkt Erfrischung, erhöhte Kraft und Seligkeit.“ Die Schlangenkraft kehrt ihren vorher genommenen Weg zurück und erschafft alles das, was sie zuvor in Auflösung versetzt hat, neu. Mit der Schlangenkraft steigt auch die individuelle Seele, jivatman, ab und formt für sich wieder die Idee der vielgestaltigen Welt mit ihren getrennten Einzelwesen, die von ihr ging, als sie aufstieg und sich mit dem Urgrund vereinigte.
Der Yogi kennt nun (da er es erlebt hat) die wahre Natur und den Zustand des Geistes und den Weg aus und in die grobstoffliche Welt… Die erweckte kundalini macht sich als großes Hitzegefühl bemerkbar. Beim Aufsteigen der kundalini werden die unteren Glieder so unbeweglich und kalt wie ein Leichnam und so geht es mit jedem Teil des Körpers, durch den sie hindurchging und den sie verlassen hat. Das rührt daher, dass sie als die Kraft, die den Körper als organisches Ganzes zusammenhält, ihr Zentrum verlässt. Im Gegensatz dazu wird der obere Teil des Kopfes ’strahlend‘, womit kein äußerer Glanz gemeint ist, sondern innere Helligkeit, Wärme und Lebendigkeit. Ist der Yoga vollendet, so sitzt der Yogi starr in der gewählten Stellung und die einzig fühlbare warme Stelle im ganzen Körper befindet sich am Scheitel, wo die shakti mit shiva vereint ist.
Wenn die shakti für immer mit dem Herrn shiva vereint bleibt und nur zurück kehrt, wenn der Yogi es will, dann ist die Befreiung erreicht. „Der Yogi ist nun ein jivan-mukta, ein für immer vom Kreislauf der Wiedergeburten Befreiter.“
Das Besondere beim Kundalini Yoga ist im Vergleich zu den vorher erwähnten Yoga-Arten, dass „nicht nur der Geist, sondern alle übrigen Bereiche des Menschen teil an der Seligkeit haben. Diese Ekstase wird auf verschiedene Weise an den verschiedenen Zentren mit den charakteristischen übernatürlichen Kräften, den siddhis, während des Aufsteigens erlebt, bis der höchste Punkt am Kronen-cakra erreicht ist, wo reine Seligkeit herrscht.“
Kundalini-Erweckung in modernen Zeiten
Nun ist es also Zeit, auf die im ersten Teil gestellte Frage zurück zu kommen: Macht es heute noch Sinn, nach der Erweckung der Kundalini-Energie in originaler Weise zu streben? Eine erste Teilantwort kann aus den Worten von Arthur Avalon selbst entnommen werden: In seinem ebenfalls 1918 erschienenen Werk „Shakti and Shakta“ stellt er die Frage, weshalb jemand Kundalini Yoga praktizieren soll, wenn doch damit sehr große Risiken und Gefahren verbunden sind. „Die komplette Disziplin enthält Schwierigkeiten und Risiko und kann nur unter der Führung eines fähigen Guru vollzogen werden. In der Schrift „Goraksha Samhita“ steht, dass ein Praktizieren ohne Hilfe und ohne Erfolg nicht nur zu Problemen, sondern zum Tod führen kann. Wer den Herrn des Todes besiegen möchte, begeht das Risiko, wenn er fehlgeht, dass er noch schneller von ihm ereilt wird.“
Dennoch ist Arthur Avalon überzeugt, dass es sich lohnt, den Kundalini Yoga zu erforschen. Er stellt ihm den Dhyana Yoga, den Weg der Meditation und Askese gegenüber und konstatiert: Beide Wege führen zur Befreiung und ermöglichen eine Form von samadhi. Aber „das eine (Kundalini Yoga) ist der Weg der Freude und das andere (Dhyana Yoga) ist der Weg des Asketismus… Während der Dhyana-Yogi durch seine geistige Anstrengung das weltliche Verlangen zum Schweigen bringt und so den Schleier der Illusion vom Bewusstsein entfernt, ist es beim Kundalini Yogi die Schlangenkraft selbst, die für ihn die Erleuchtung erlangt.“
Damit sei die Erleuchtung von mehr sicherer Art, weil sie durch die inneliegende Weisheit der Schlangenkraft geschieht. Des Weiteren erfahre der Praktizierende auf der Höhe eines jeden einzelnen cakra eine selige Freude von Vereinigung und kann entsprechend dem jeweiligen cakra yogische außergewöhnliche Fähigkeiten (siddhi) entwickeln. – Um ein Beispiel für diese siddhi zu nennen, kann auf die Biographie von Vishnu Devananda im Yogavidya-Wiki verwiesen werden. Dort wird von einem großen Yoga-Festival im Jahr 1970 berichtet, wo als Höhepunkt „die gesamte Yogalehrer-Ausbildungsklasse über glühende Kohlen lief, angeführt von Swami Vishnu Devananda selbst. Einige Wochen an yogischer Reinigung sind dieser Aktion verständlicherweise vorausgegangen.”
Vollkommene Befreiung bereits in diesem Leben
Arthur Avalon bezieht sich in seinen Betrachtungen auf die Yoga-Praktiken der Vergangenheit, die immer mit Askese und Absonderung von dem weltlichen Treiben einhergingen. Nach der Philosophie des Tantra Yoga, von dem die Kundalini-Erweckung ein Teil ist, sei es aber konsequenter, das irdische Leben in all seinen Formen zu bejahen, da es als Ausdruck der göttlichen Shakti-Kraft gesehen werden kann. Wer jeden menschlichen Akt ohne Ausnahme als religiöse Geste versteht, kann Freude in diesem Leben und Befreiung in diesem wie im nachtodlichen Dasein erlangen – und dies sogar in schnellerer, kompletterer und mehr wahrhaftiger Weise als durch Askese.
Während also der Engländer Sir John Woodroffe alias Arthur Avalon sich in seinen Betrachtungen von den vergangenen Yoga-Praktiken abhebt und den Wert des Kundalini Yoga für die Gegenwart betont, ist es sein deutschsprachiger Zeitgenosse Rudolf Steiner (1861-1925), der ein in die Zukunft gerichtetes Konzept zur Entwicklung der cakra schildert. In seinem im Jahr 1907 erschienenen Werk „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten“ erweitert er die Frage nach Askese oder Lebensgenuss dahingehend, dass er die seelische Haltung des Praktizierenden betont. Der Genuss sei durchaus notwendig und stelle eine fundamentale Kraft für das Leben dar. Für einen geistig Strebenden würde es nun aber darum gehen, den Genuss im Nachhinein in seiner Art und Qualität wahrzunehmen, „sich von ihm etwas sagen zu lassen.“
Aus dieser Betonung der psychischen Seite heraus entsteht ein vollkommen neues Konzept zur Entwicklung der cakra. Rudolf Steiner begreift die cakra als im Seelenorganismus befindliche „Sinnesorgane der Seele“, die im Rahmen einer geistigen Schulung entwickelt werden können und eine erste Form von Hellsichtigkeit eröffnen. Er beginnt seinem Anliegen gemäß mit der Beschreibung des fünften cakra, das bereits mehr dem Bewusstsein zugeordnet wird als dem physischen Körper und beschreibt dann die weiteren cakra, von oben nach unten fortschreitend. Das Anliegen Rudolf Steiners ist in die Zukunft gerichtet, denn der von ihm beschriebene Weg kann auch in individueller Weise, ohne die strenge Führung durch einen Guru geschehen. Diese Betonung des Individuellen ist nach seinen Ausführungen eine Notwendigkeit der modernen Zeit, die sich dadurch kennzeichnet, dass der Mensch immer mehr eine Abneigung gegen Formen äußerer Autorität zeigt und die ihm eigene inneliegende Schöpferkraft in selbständiger Weise und im persönlich gewählten Maß entwickeln möchte.
Moderne Wege, um die cakra zu erwecken
So lässt sich abschließend zusammenfassend sagen, dass Kundalini Yoga sicher auch in der heutigen Zeit sehr wertvolle, weil lebensbejahende und den Körper integrierende Erfahrungen eröffnen kann. Wegen der mit der Praxis verbundenen Risiken ist das Erlernen jedoch von der Anleitung durch einen erfahrenen Lehrer abhängig. Ein Lehrer kann dabei seine Schüler nur immer so weit führen, als er selbst die Dinge real erfahren hat. Ein in universitärer Art angeeignetes intellektuelles Wissen ist für eine solche Yogapraxis als Grundlage nicht ausreichend.
Eine Alternative zu dem mehr körperbetonten Erwecken der cakra im Kundalini Yoga bieten moderne Wege wie die Anthroposophie Rudolf Steiners oder auch die sogenannte “Neue Yogaempfindung” nach Heinz Grill. Diese Personen betonen einen Entwicklungsansatz, der seinen Ausgangspunkt ganz in einer individuellen Auseinandersetzung mit seelisch-geistigen Inhalten nimmt und erst in einem zweiten Schritt die sich auf körperlicher Ebene zeigenden Empfindungen beobachtet. Der eingangs (im ersten Teil) zitierte Ansatz von Martin Dierks, der dazu rät, zuerst das Herz zu entwickeln, dürfte in eine ähnliche Richtung weisen, wenn auch bei ihm die Betonung mehr auf der Erfahrung von Liebe liegt.
Teil I Was ist eigentlich Kundalini Yoga?
Teil II Der Kundalini Yogi als lebendig Befreiter im Selbst
Teil III Kundalini Yoga als höchster Yoga
Teil IV Ist die Kundalini Shakti zerstörerisch oder segensvoll?
Teil V Bericht eines Kundalini-Yoga-Schülers
Textquellen:
M. P. Pandit, Kundalini-Yoga, Drei-Eichen-Verlag München/Engelberg, 3. Auflage 1985, ISBN 3-7699-0440-0
Sir John Woodroffe alias Arthur Avalon, Shakti and Shakta, O. W. Barth Verlag 1987, ISBN978-3502610458, im Internet in englischer Sprache abrufbar
Rudolf Steiner, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Rudolf Steiner Verlag, 13. Auflage 2014, ISBN 978-3727460012
Bildquellen (18-02-04):
fotos.sc, erlebnisgeschenke.de, yogaguide.at, amazon.at
Hallo Alina,
danke für die Erwähnung in Ihrem fundierten Beitrag. Ich denke, Sie schätzen meine Philosophie schon ganz richtig ein. Ich betreibe zwar keine bestimmte Technik, um durch Herzerweckung eine unkontrollierte Kundalini zu bändigen. Ein konsequenter Lebensstil, der die eigene psychologisch-spirituelle Entwicklung an erster Stelle setzt, verhilft aber zu einem konstruktiven, ganzheitlichen Umgang mit der Kundalini. Der psychologisch-spirituelle Ansatz entspricht nach meiner Lebensphilosophie dem Sinn des Lebens, also uns zu mehr Liebe und Spiritualität zu entwickeln. Außerdem setzt er an der effektivsten Stellschraube an, die es gibt, denn unsere (vor allem unbewussten) Gefühle und spirituellen Aufgaben bestimmen unser Leben und unsere Energien maßgeblich. Ich bezeichne das manchmal als „ganzheitliche Psychosomatik“. Und drittens entgeht man der großen Gefahr, durch Übungen und Energiearbeit einseitig nur an seinen Energien zu arbeiten, ohne die inneren Ursachen eines z.B. blockierten Chakras aufzudecken, z.B. Missbrauch. Gerade dann wird eine Kundalini-Erweckung evtl. gefährlich, also wenn die inneren Ursachen außen vor bleiben. Wer lernt, sich selbst mehr zu lieben, der weckt sein Herz und seine Energien automatisch auf ganzheitliche, ungefährliche Weise. Es ist kein schneller Weg, aber der m.E. beste, den es gibt und es kommt ohnehin niemand daran vorbei („Sinn des Lebens“). Letztlich ist es ein christlicher Weg, denn Christus lehrte das Doppelgebot der Liebe als wichtigsten „Führer“ im Leben.