Das Mantra OM ist das Keim-Mantra (bija-mantra) des sechsten Energiezentrums an der Stirn, das Ajna-Chakra. Es ist heutzutage quasi in aller Munde. Nichtsdestotrotz ist seine Bedeutung eine äußerst tiefe. Wohl niemand wird diese Bedeutung auf die Schnelle erschlüsseln können. So möchte ich nur einige interessante Gedanken darstellen, die für eine Annäherung zu dieser tiefen Bedeutung behilflich sein könnten.
OM – das Keim-Mantra des Chakra an der Stirne
Heisst es nun OM oder AUM? So könnte man mit einer ersten Fragestellung beginnen. Hier gibt uns die traditionelle Sanskritgrammatik eine Antwort. Nach Thomas Lehmann (1) ist das O als ein Laut zu verstehen, der im Sinne einer Lautwandlung aus einem zugrunde liegenden A+U hervorgeht. Ein (kurzes) A und ein (kurzes) U ergeben demnach zusammen das lange O. Man rezitiert also OM und kann sich gleichzeitig darüber bewusst sein, dass es sich um A+U+M handelt.
Zur Bedeutung des Mantra OM liegt eine eigene “Upanishad” vor, die sogenannte MANDUKYA UPANISHAD. Sie ist die kürzeste aller Upanishaden, von denen es aus der Zeit der indischen Hochkultur sehr viele gibt. Sie besteht nur aus zwölf Versen. Deshalb habe ich in meinem Video auch Fotos zu den 12 Monaten eines Jahres gewählt. Ich kann mir denken, dass es sich bei dieser Zwölferzahl um keinen Zufall handelt. Tatsächlich wird das Mantra OM auch symbolisch für die ganze Schöpfung gesehen. Wie bei nahezu allen Sanskrittexten tun sich die Wissenschaftler sehr schwer mit der zeitlichen Zuordnung. Oft sind die Zeiten der rein mündlichen Überlieferung schwer zu trennen von dem Moment der schriftlichen Abfassung. Da es sich um tradierte heilige Texte handelt, kann man auch meist schwer einen bestimmten Autor benennen. Die Datierung der Mandukya Upanishad liegt nach Wikipedia zwischen 500 v. Chr. und 200 n. Chr (2).
Der Text der Upanishad eignet sich auch heute noch als Meditationstext. Er ist in dem Video in deutscher und englischer Sprache wiedergegeben. Dabei bin ich von der Übersetzung von Swami Krishnananda von der Divine Live Societiy in Rishikesh ausgegangen (3). Dieser Text hat eine poetisch berührenden Wirkung. Hier also nun das Mantra – es erzeugt beim Zuhören eine innerlich zentrierte Stimmung:
Mikrokosmos und Makrokosmos wirken zusammen
Swami Krishnananda sagt im Begleittext zur Übersetzung:
Die Mandukya Upanishad betrachtet das Atma…nicht nur von dem Gesichtspunkt des Mikrokosmos, sondern auch von dem Standpunkt des Makrokosmos. Es handelt sich also nicht nur um eine bloße Analyse des Selbst des Menschen, sondern es handelt sich um eine Synthese von der subjektiven Ebene und der objektiven Ebene. Von dem Standpunkt der Upanishad aus gesehen, gibt es keinen unüberbrückbaren Fluss zwischen dem Individuum und dem Kosmos….So bringt uns die Mandukya Upanishad in eine Harmonie zwischen uns selbst und der Welt. …Die erwähnten “sieben Glieder” beziehen sich auf eine Beschreibung des Kosmos und die erwähnten “19 Münder” beziehen sich auf die Funktionen des Selbst in seiner Eigenschaft als vom Kosmos isoliertes Individuum.” (4)
Dieser Standpunkt, den Mikrokosmos des Menschen wie den Makrokosmos des Universums gleichzeitig zu betrachten, macht die indische Philosophie für den modernen Europäer so schwer begreifbar, aber auch so sehr faszinierend.
Swami Sivananda schlüsselt die in der Mandukya Upanishad erwähnten Bewusstseinsformen genauer auf. (5) Demnach ist:
A – Wachzustand – kosmisches Bewusstsein in der Schöpfung – individuelles normales Bewusstsein.
U – Traumzustand – subtiles astrales (6) Bewusstsein – individuelles astrales Traumbewusstsein.
M – Tiefschlaf – kosmisches kausales (7) Bewusstsein – individuelles Bewusstsein auf der Kausalebene, wo es Gottesbewusstsein erlangt.
Hier wird also in Hinsicht auf die irdische Schöpfung, auf den Kosmos und auf das ganze Universum von einem Bewusstsein gesprochen. Normalerweise würden wir dieses Wort „Bewusstsein“ nur auf den Menschen selbst anwenden.
Der Mensch als Ursache der Schöpfung
Wie kann man sich diesen Zusammenhang zwischen dem kosmisch vorhandenen Bewusstsein und dem individuellen Bewusstsein des Menschen etwas konkreter vorstellen? In einer Broschüre über den Japa Yoga von einem unbekannten Autor habe ich dazu folgende interessante Ausführung gefunden (8):
Das OM strömt vom Haupte über die Wirbelsäule bis in den Mittelpunkt des Blutkreislaufs hinein und bezeichnet die evolutionäre tätige Wirkungsmacht des immerwährenden schöpferischen Geistes. Es bezeichnet die Schöpfung und die Schaffenskraft zugleich. Es ist das Wesen des innersten Menschseins, denn es ist der Mensch und sein Selbst, das sich mit einer großen Kraft in die Bildung der Erde und des Himmels verströmt.
Nach dieser Ansicht ist also dieses geheimnisvolle „Höhere Selbst“ des Menschen die Ursache für die gesamte Schöpfung. Eine Ansicht, die den ganzen Darwinismus auf den Kopf stellt. Aber muss sie deshalb verkehrt sein? Zumindest galt in Indien jahrtausendelang und lange bevor es eine Kultur in unseren Zonen gab, das Wort Atman, das Höhere Selbst des Menschen, ist Brahman, der unendliche Schöpfergeist. Kann es sein, dass sich eine so hochstehende Kultur, wie es die Indus-Kultur vor etwa 4500 Jahren war, komplett geirrt hat?
Vielleicht kann die aufmerksame Mantra-Rezitation mit besinnlicher Reflexion auf die Verse der Mandukya Upanishad zu einer Antwort und inneren Gewissheit zu dieser Frage führen.
Textquellen und Anmerkungen:
(1) Thomas Lehmann, Sanskrit für Anfänger
(2) Wikipedia.org, Mandukya Upanishad
(3) Swami Krishnananda, THE MĀNDŪKYA UPANISHAD
(4) ebd. S. 51
(5) Swami Sivananda, Japa Yoga
(6) astral = in diesem Kontext: zum Sonnensystem gehörend, bzw. zur Seele des Menschen gehörend
(7) kausal = in diesem Kontext: zum Universum gehörend, bzw. zur feinsten geistigen Umhüllung des Menschen gehörend
(8) Japa Yoga, unbekannter Autor
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