Medizin ohne Menschlichkeit, A. Mitscherlich und F. Mielke (Hrsg.)

Rezension der Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozess vom 9.12.146 bis zum 19.7.1947.

Medizin ohne Menschlichkeit, Mitscherlich u. MielkeDer Herausgeber dieses Buches, Dr. med. Alexander Mitscherlich war gerade frischgebackener Privatdozent für Neurologie in Heidelberg, als man im Jahr 1947 mit der Bitte an ihn herantrat, die im Verlauf der Nürnberger Ärzteprozesse ans Licht kommenden Tatsachen von medizinischer Seite zu dokumentieren. Wie Mitscherlich im Vorwort selbst mit Verwunderung schreibt, hatte sich kein anderer, mehr erfahrener Arzt finden lassen, der bereit gewesen wäre, sich mit den Dokumenten des Grauens zu konfrontieren. So hatte Mitscherlich nur seinen jungen Assistenten Fred Mielke an der Seite, mit dem er es wagte, praktisch und gedanklich in diese Arbeit einzutauchen und sich dabei die Gewissensfrage vor Augen zu halten: „Inwieweit war ich selbst ein Teil des Apparates, der es ermöglicht hatte, dass aus jedem 300. Arzt in Deutschland ein Schwerverbrecher geworden war?“

Zu dieser speziellen Entstehungsgeschichte des Buches gesellt sich der Umstand, dass die erste Auflage von 10.000 Stück aus dem Jahr 1948 zwar von vorneherein nur für die Mitglieder der Westdeutschen Ärztekammern bestimmt war, aber dennoch selbst unter den Ärzten auf so perfekte Weise totgeschwiegen wurde, dass es für Mitscherlich auch Jahre später unklar war, ob überhaupt eine Verteilung der Ausgaben unter den Ärzten stattgefunden hatte. Weiterhin kommt hinzu, dass die zweite Auflage erst ganze 11 Jahre später, im Jahr 1960, erschien, im Folgejahr, nachdem Dr. Fred Mielke mit 37 Jahren viel zu früh verstorben war. Mittlerweile ist die 20. Auflage im Buchhandel erhältlich, was für die ungebrochene Bedeutung dieses Werkes spricht.

Versuche am Menschen und Tötung „unwerten Lebens“

Das Buch enthält eine Fülle von Original-Dokumenten, zusammen mit Kommentaren der Herausgeber. Sie berichten unter anderem über:

  • Unterdruck- und Unterkühlungsversuche
  • Versuche zur Trinkbarmachung von Meerwasser
  • Fleckfieber-Impfstoff-Versuche
  • Hepatitis Epidemica-Virus-Forschung
  • Sulfonamid-, Knochentransplantations- und Phlegmonversuche
  • Die Jüdische Skelettsammlung für die „Reichsuniversität“ Straßburg
  • Das Euthanasie-Programm für „unheilbare Kranke“
  • Die „direkte Ausmerzung“ unerwünschten Vokstums und unerwünschter Kranker durch „Sonderbehandlung“
  • Experimentelle Vorarbeiten für Massensterilisationen

Wichtige Diskussionspunkte während der Gerichtsverhandlungen waren zum einen die Frage nach der Freiwilligkeit bei den Versuchspersonen und zum anderen die Frage nach der Verantwortung bei den ausführenden Ärzten und Mitarbeitern.

Auf welche Art manche der an den Menschenversuchen beteiligten Ärzte ihr Gewissen ausblendenten, zeigt der folgende Auszug aus dem Verhör eines gewissen Prof. Ivy:

F.: Sie haben heute bestätigt, dass unter der Voraussetzung der Freiwilligkeit Versuche an zum Tode verurteilten Verbrechern als ethisch zulässig anzusehen sind, auch wenn ihnen Medikamente in schädlicher Überdosierung gegeben worden sind, die zu einem bedenklichen Ausgang führen. … Es wurde in diesem Falle also einem Freiwilligen Gift zugeführt. Steht nun aber ein solcher Versuch nicht im Gegensatz zum folgenden Satz im hippokratischen Eid: „Ich würde keinem Menschen ein tödliches Gift geben, auch nicht auf dessen Verlangen?“

A.: Das, glaube ich, bezieht sich auf die Funktion des Arztes als Therapeut und nicht als Experimentator. Der Teil, welcher sich auf den Eid des Hippokrates bezieht, ist der, dass er Respekt vor dem Menschenleben haben soll und vor dem Leben seines Patienten.

F.: Sie glauben also, unterscheiden zu müssen, Herr Professor, zwischen dem Artz als Therapeuten, dem Heilarzt, und dem Arzt als Forscher und geben damit zu, dass für jeden von ihnen andere Gesetze bzw. andere Abschnitte des hippokratischen Eides gelten?

A.: Ja, das tue ich ganz eindeutig.“

Mitscherlich kommentiert diese Aussage folgendermaßen: „… Im Kriegsfall z. B. darf danach der Arzt sein Wissen … der kriegführenden Partei zur Verfügung stellen. Dies berührt aber im Fundament die ärztliche Freiheit, nämlich über den Parteien stehend den leidenden Menschen seine Hilfe zur Verfügung zu stellen. Man sieht, dass die Trennung von forschendem und praktizierendem Arzt bis in die humanen Grundverpflichtungen hinein die Wirkung des Arzttumes in sich selbst aufhebt; die rechte Hand weiß wirklich nicht mehr, was die linke tut…. Doch kann es nicht verschwiegen werden, dass diese Versuchung offenbar eine ist, die im gegenwärtigen Entwicklungsstadium überall in unserem Zivilisationskreis entsteht. Die Diktatur verschärft sie nur und ebnet ihr die Wege.“¹

„Jeder Himmler muss seinen Brandt haben“

Die Frage der Verantwortung zeigt sich beispielsweise besonders deutlich am Gerichtsurteil gegen Dr. jur. Rudolf Brandt, den persönlichen Refrenten Himmlers:

SS-Standartenführer Rudolf Brandt erklärte, durch Zeugenaussagen glaubhaft unterstützt, dass er auf Grund seiner hervorragenden stenographischen Fähigkeiten seit seinem 25. Lebensjahr die erste Schreibkraft Himmlers gewesen sei und gänzlich unter dessen Einfluss stehend nur Befehle schriftlich weitergegeben habe.

Der Gerichtshof verurteilte Rudolf Brandt zum Tode und führte in seiner Urteilsbegründung aus: „Ein äußerst überzeugender und interessanter Schriftsatz für den Angeklagten Rudolf Brandt, welchen sein Verteidiger überreicht hatte, hat die sorgfältigste Aufmerksamkeit dieses Gerichtshofes gefunden. Darin wird darauf Nachdruck gelegt, dass Rudolf Brandts Stellung unter Heinrich Himmler so untergeordnet war, dass sein persönlicher Charakter so wesentlich milde war und dass er so von seinem Chef beherrscht wurde, dass die volle Bedeutung der Verbrechen, in die er verwickelt wurde, ihm erst erschütternd klar wurde, als ihm der Prozess gemacht wurde. Diese Vorstellungen werden gemacht, um erschreckende Vergehen zu mildern, von denen gesagt wird, dass der Angeklagte Brandt nur eine bescheidene Rolle in ihnen spielte.

Wenn man auch nur für einen Augenblick glauben wollte, dass die von Rudolf Brandt gespielte Rolle verhältnismäßig unbedeutend war, im Vergleich mit der Riesengröße der Beschuldigungen, die durch das Beweismaterial bewiesen sind, dann muss doch klar gesagt werden, dass jeder Himmler seinen Brandt haben muss, sonst würden die Pläne eines Meisterverbrechers niemals ausgeführt werden.

Daher kann der Gerichtshof diese These nicht annehmen.²

Der Nürnberger Kodex

Im Anschluss an die Urteilsverkündigung, bei der für sieben der Angeklagten die Todesstrafe festgesetzt wurde, formulierten die Richter zehn Grundsätze über die Zulässigkeit von medizinischen Versuchen. Diese Grundsätze sind als weltweite ethische Norm unter dem Namen Nürnberger Kodex in die Geschichte eingegangen und bis heute international gültig.

Wenn heute bei der Forderung nach Freiwilligkeit in der Entscheidung über die Impfung gegen Covid-19 auf den Nürnberger Kodex von 1947 hingewiesen wird, so liegt das daran, dass keiner der unterschiedlichen Impftypen die kompletten Studienphasen durchlaufen hat. Damit kommt der Impfung selbst ganz real der Charakter einer „großangelegten Studie am Menschen“ zu. Laut Arzneimittelgesetz ist es beispielsweise nicht erlaubt, auf Tierversuche in der Impfstoffentwicklung zu verzichten, bevor diese am Menschen getestet werden dürfen. Bei der Entwicklung der Corona-Impfstoffe jedoch wurden Tierversuche teilweise verkürzt, übersprungen oder parallel mit den Tests an Menschen durchgeführt, um das Verfahren zu beschleunigen.³ Die Grundsätze des Nürnberger Kodex lauten folgendermaßen:

  1. Die freiwillige Zustimmung der Versuchsperson ist unbedingt erforderlich. Das heißt, dass die betreffende Person im juristischen Sinne fähig sein muss, ihre Einwilligung zu geben; dass sie in der Lage sein muss, unbeeinflusst durch Gewalt, Betrug, List, Druck, Vortäuschung oder irgendeine andere Form der Überredung oder des Zwanges, von ihrem Urteilsvermögen Gebrauch zu machen; dass sie das betreffende Gebiet in seinen Einzelheiten hinreichend kennen und verstehen muss, um eine verständige und informierte Entscheidung treffen zu können. Diese letzte Bedingung macht es notwendig, dass der Versuchsperson vor der Einholung ihrer Zustimmung das Wesen, die Länge und der Zweck des Versuches klargemacht werden; sowie die Methode und die Mittel, welche angewendet werden sollen, alle Unannehmlichkeiten und Gefahren, welche mit Fug zu erwarten sind, und die Folgen für ihre Gesundheit oder ihre Person, welche sich aus der Teilnahme ergeben mögen. Die Pflicht und Verantwortlichkeit, den Wert der Zustimmung festzustellen, obliegt jedem, der den Versuch anordnet, leitet oder ihn durchführt. Dies ist eine persönliche Pflicht und Verantwortlichkeit, welche nicht straflos an andere weitergegeben werden kann.
  2. Der Versuch muss so gestaltet sein, dass fruchtbare Ergebnisse für das Wohl der Gesellschaft zu erwarten sind, welche nicht durch andere Forschungsmittel oder Methoden zu erlangen sind. Er darf seiner Natur nach nicht willkürlich oder überflüssig sein.
  3. Der Versuch ist so zu planen und auf Ergebnissen von Tierversuchen und naturkundlichem Wissen über die Krankheit oder das Forschungsproblem aufzubauen, dass die zu erwartenden Ergebnisse die Durchführung des Versuchs rechtfertigen werden.
  4. Der Versuch ist so auszuführen, dass alles unnötige körperliche und seelische Leiden und Schädigungen vermieden werden.
  5. Kein Versuch darf durchgeführt werden, wenn von vornherein mit Fug angenommen werden kann, dass es zum Tod oder einem dauernden Schaden führen wird, höchstens jene Versuche ausgenommen, bei welchen der Versuchsleiter gleichzeitig als Versuchsperson dient.
  6. Die Gefährdung darf niemals über jene Grenzen hinausgehen, die durch die humanitäre Bedeutung des zu lösenden Problems vorgegeben sind.
  7. Es ist für ausreichende Vorbereitung und geeignete Vorrichtungen Sorge zu tragen, um die Versuchsperson auch vor der geringsten Möglichkeit von Verletzung, bleibendem Schaden oder Tod zu schützen.
  8. Der Versuch darf nur von wissenschaftlich qualifizierten Personen durchgeführt werden. Größte Geschicklichkeit und Vorsicht sind auf allen Stufen des Versuchs von denjenigen zu verlangen, die den Versuch leiten oder durchführen.
  9. Während des Versuches muss der Versuchsperson freigestellt bleiben, den Versuch zu beenden, wenn sie körperlich oder psychisch einen Punkt erreicht hat, an dem ihr seine Fortsetzung unmöglich erscheint.
  10. Im Verlauf des Versuchs muss der Versuchsleiter jederzeit darauf vorbereitet sein, den Versuch abzubrechen, wenn er auf Grund des von ihm verlangten guten Glaubens, seiner besonderen Erfahrung und seines sorgfältigen Urteils vermuten muss, dass eine Fortsetzung des Versuches eine Verletzung, eine bleibende Schädigung oder den Tod der Versuchsperson zur Folge haben könnte.4

Die Lektüre der Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozess kann beileibe nicht jedem empfohlen werden, denn es wird von grausamsten Szenen berichtet. Angesichts der schrecklichen Themen, die nur allzuleicht Hassgefühle beim Leser und die unaufhörliche Frage: Wie konnte das nur passieren? auslöst, ist es den Herausgebern jedoch auf hervorragende Weise gelungen, einen Standpunkt zu bewahren, der Sachlichkeit bewahrt, ohne die persönliche Betroffenheit zu verlieren.

Wer sich angesichts der gegenwärtigen chaotischen Weltsituation die Frage nach dem Bösen in der Welt stellt, wird aus der Lektüre dieses Buches die wichtige Einsicht gewinnen: Das Böse ist eine Realität, die von jedem einzelnen Menschen erkannt und kraft seiner Ethik und seines Charakters zurückgewiesen werden möchte. Das Studium der geschichtlichen Tatsachen kann zur besseren Erkenntnis des Bösen in der Gegenwart verhelfen.

Einer Bewertung möchte ich mich bei diesem sehr speziellen Buch enthalten.

Anmerkungen:

(1) S. 63/64

(2) S. 233

(3) https://www.zeitjung.de/impfung-impfstoffe-vegan-covid-19-tierversuche/, abgerufen am 20.04.2021

(4) https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%BCrnberger_Kodex, abgerufen am 20.04.2021

 

Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Taschenbuch, 393 Seiten, Fischer Taschenbuch Verlag, 20. Auflage 2017, ISBN 978-3596220038

Das Buch ist online erhältlich unter anderem auf den Seiten: derbuchhaendler.at, Thalia.at, suedwind-buchwelt.at.

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