OM Namo Narayanaya, Sanskrit-Mantra

“OM Namo Narayanaya, ich bin eine Transzendenz im Gedanken.”

Bei dem Mantra OM Namo Narayanaya handelt es sich um ein traditionelles Sanskrit-Mantra aus Indien. Narayana als göttlich-geistige Energie ist zunächst ein Beiname für Vishnu, den Gott, der die erhaltende Kraft im Universum repräsentiert. In einer Art Trilogie oder “Dreigestaltigkeit” (trimūrti) kann man in Indien des Weiteren von einer schöpferischen Kraft, Brahma genannt und einer zerstörenden oder auflösenden Kraft sprechen, die durch Shiva repräsentiert wird, der auch der Gott des Yoga und des Asketismus ist.¹

OM Namo Narayanaya_Sanskrit-Mantra

Was bedeutet das Wort Narayana?

Zunächst muss man bemerken, dass es sich bei dem so geheimnisvoll schwingenden Wort nārāyaṇāya um eine Dativ-Form handelt, im Nominativ heißt das Wort nārāyaṇa. Die wörtliche Übersetzung von OM Namo Narayanaya lautet: “Verehrung sei dem Narayana”. In nārāyaṇa verbergen sich nun wiederum zwei Worte, das ist nara, der Mensch, und ayana, was “Heim, Zuflucht”, aber auch “gehend” bedeutet.

Indische Texte selbst geben Erklärungsversuche für die Wortbedeutung. Einen der schönsten liefert der Text Manu-smriti, eine mindestens 2000 Jahre alte Schrift:²

1.8. Im Verlangen danach, vielerlei Arten von Lebewesen aus seinem eigenen Körper hervorzubringen, erzeugte er zuerst mit einem Gedanken die Wasser und legte seinen Samen hinein.

1.9. Dieser wurde zu einem goldenen Ei, glänzend wie die Sonne; darin wurde er selbst als Brahman geboren, der Schöpfer der ganzen Welt.

(Und weiter):

āpo narā iti proktā āpo vai narasūnavaḥ /

tā yad asyāyanaṃ pūrvaṃ tena nārāyaṇaḥ smṛtaḥ

1.10. Die Wasser werden Nara genannt³, denn aus den Wassern ist Nara hervorgekommen, sie sind seine ursprüngliche Heimat (ayana) und so wird er Sohn des Wassers (narayana) genannt.

Naryana-http://sacredhinduism.com/narayana-gayatri-mantra-lyrics/Es entsteht das Bild eines Art kosmischen Urmenschen, der sich in einer Art “Urwassern” befindet und aus dem schließlich die ganze Weltenschöpfung hervorgeht. Man kann sich etwas an die biblische Schöpfungsgeschichte erinnert fühlen, auch dort wird von Wassern gesprochen, über denen Gottes Geist schwebte.4 Die Bibel vermittelt aber eher das Bild einer Art ferner Gottheit, der die ganze Schöpfung “in Gang setzt”, während in der indischen Tradition der Mensch als “kosmisch universaler Urmensch” am Ausgang der Schöpfung liegt.

Rudolf Steiner über den Ursprung der Zirbeldrüse

Diese ursprünglichen  Bilder einer Schöpfungsmythologie stehen unserer modernen Denkweise natürlich sehr fern. Um so interessanter ist es, eine Erwähnung von Rudolf Steiner aus dem Jahr 1906 über den Ursprung der Zirbeldrüse zur Kenntnis zu nehmen:5

Die Zirbeldrüse ist das Relikt eines Organes, das beim Vormenschen von größter Wichtigkeit war, eines Wahrnehmungsorganes. Es war eine Art Außenhirn, das zugleich als Antenne für Auge und Ohr diente. Dieses Organ hat es beim Vormenschen in einer früheren Periode gegeben, zu einer Zeit, da die Erde noch halb flüssig, halb dampfförmig und mit dem Monde verbunden war. In diesem teils flüssigen, teils gasförmigen Element schwamm der Mensch wie ein Fisch und lenkte sich mit Hilfe jenes Organs. Seine Wahrnehmungen hatten einen hellseherischen, bildhaften Charakter. Die warmen Strömungen riefen in ihm einen Eindruck von hellem Rot und starkem Wohlklang hervor. Die kalten Strömungen erweckten grüne und blaue Farben, silberglänzende und flüssige Klänge.

Sollten die Schöpfungsmythen auf solche urfernen Zustände menschlichen Daseins und Bewusstseins verweisen? Die Angaben von Rudolf Steiner eröffnen zumindest eine denkbare Möglichkeit.

Heinz Grill über die Bedeutung von Narayana

Eine noch modernere und konkretere Interpretation über das Mantra OM Namo Narayana findet sich in der Broschüre von Heinz Grill über “Die Entwicklung einer gehobenen, sympathischen Sprachkultur”:

Wir können davon ausgehen, dass wir drei Glieder haben. … Da ist der Gedanke oder das Denken, dann sind es emotionale Gebilde oder die sogenannten bekannten Gefühle und schließlich als Drittes das Willensleben…. Die Konzentrationsübung oder allgemein die Seelenübung sollte so ausgerichtet sein, dass die einzelnen Elemente oder die einzelnen Kräfte in der Seele selbst wieder hervorkommen. Wenn es nun gelingt, richtige Konzentration zu üben, wird der Gedanke für sich aufleuchten und wird sich gegenüber dem Gefühl und gegenüber dem Willen wie ein freies Wesen darstellen. Dann können wir feststellen, dass dieses Ich real ein Gedankenwesen ist. Dann werden wir tatsächlich zu der Erkenntnis kommen: Nicht der Körper ist das Ich, sondern der schöpferische Urgrund des Gedankens selbst bildet die Anlage für das Ich. … Wenn dieser Weg richtig beschritten wird, kommt man zu der beseligenden Erkenntnis des OM Namo Narayanaya. “Ich bin ein reales Gedankenwesen, ich bin eine Transzendenz im Gedanken, das ist mein Glück.” Das Ich-Selbst ist in diesem Urgrund gegründet und diese Erkenntnis schenkt eine glückliche Vorsehung.6

Das bedeutet, wer heute das Mantra OM Namo Narayana rezitiert, kann sich daran erinnern, dass die erhaltende Kraft des Menschseins die Fähigkeit bedeutet, sich selbst als “Gedankenwesen” zu erleben.

Textquellen und Anmerkungen:

(1) siehe den Beitrag “Trimurti” auf wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Trimurti

(2) Manusmriti, Sanskrit-Englisch, https://ia801301.us.archive.org/23/items/ManuSmriti_201601/Manu-Smriti.pdf, Download am 17.11.2020

(3) Das Hauptwort “nara” könnte auf die Sanskrit-Verbwurzel √nṛ (sprich “nrü”) zurückgehen, was “herumtollen” bedeutet. Vielleicht trifft dies tatsächlich das Erleben des Inders in frühen Zeiten beim Anblick des Meeres. Somit hätte man eine Hypothese für die Worterklärung aus der Manusmriti: “Der (Ur-)Mensch als der, der aus den Wassern hervorgegangen ist”. 

(4) siehe das Buch Genesis“Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut, und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. Gott sah, daß das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis, und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Es wurde Abend, und es wurde Morgen: Der erste Tag. Dann sprach Gott: Ein Gewölbe entstehe mitten im Wasser und scheide Wasser von Wasser. Gott machte also das Gewölbe und schied das Wasser unterhalb des Gewölbes vom Wasser oberhalb des Gewölbes. So geschah es, und Gott nannte das Gewölbe Himmel.”

(5) Rudolf Steiner, Kosmogonie, GA 94, S.31

(6) Heinz Grill, Die Entwicklung einer gehobenen, sympathischen Sprachkultur, Lammers-Koll-Verlag 2007, ISBN 9783941995857, S. 59/60

Bildnachweis (20-11-12): Narayana-http://sacredhinduism.com/narayana-gayatri-mantra-lyrics/

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