Rezension des Praxis Handbuch und Studienbuch aus der Feder des Ayurveda-Pioniers Dr. Hans Heinrich Rhyner.
Der Autor studierte mindestens seit 1988 Ayurveda bei zwei bekannten Professoren in Indien und wendet diese indische Heilkunst in seinem Arztberuf an. Angeregt von der Begeisterung seiner Lehrer hat er im Jahr 1992 in der Schweiz die erste anerkannte Ayurveda-Klinik im Westen gegründet. Im Jahr 1994 folgte die Gründung der SEVA Akademie in München, die Ayurveda-Ausbildungen im gesamten deutschsprachigen Raum anbietet. Nach Jahren praktischer Berufserfahrung hat er sich zum Verfassen des vorliegenden Praxis Handbuch Ayurveda entschieden.
Ein Schatz an traditionellem Wissen
Allein das Inhaltsverzeichnis ist bereits sehr aufschlussreich und gibt einen Eindruck, inwiefern die ayurvedische Betrachtungsweise des Menschen über das westlich-wissenschaftliche Denken hinaus geht:
Nach einem geschichtlichen Abriss und Anmerkungen zu den verschiedenen existierenden ayurvedischen Schulen erfährt der Leser bereits im Kapitel über die Anatomie, dass es im Körper sogenannte Vitalpunkte, marma, gibt, wie auch subtile Energiezentren, die unter dem Begriff cakra auch in Yogakreisen und auch philosophischen oder esoterischen Kreisen eine Rolle spielen.
Noch spannender wird es mit dem Kapitel der Physiologie, wo erstmals die drei im Ayurveda so bedeutsamen Konstitutionstypen Vata, Pitta und Kapha angesprochen werden. Vata entspricht dem luftigen Charakter, Pitta dem feurigen und Kapha dem wässrigen. Daraus hat sich auf dem indischen Subkontinent eine ganze Konstitutionslehre entwickelt. – Hat Ihr Arzt schon einmal berücksichtigt, ob Sie eher ein depressiver, ein melancholischer, ein sanguinischer oder ein hysterischer Typ sind? Das wären nämlich die aus der griechischen Vier-Säfte-Lehre entstammenden Temperamente, wie sie in der westlichen Kultur zumindest bekannt sind.
Weiter geht es im Buch mit der Frage, wie man Krankheiten erkennt und wie eine Heilmittelkunde grundgelegt werden kann. Der eigentlichen Heilkunde oder Therapeutik ist ebenso ein Kapitel gewidmet wie der Ernährungslehre.
Kennt der Westen eine Gesundheitslehre?
Im Westen musste erst Aaron Antonovsky im Jahr 1970 mit seiner Salutogenese eine Lehre von der Gesundheit begründen. In Indien wird diese seit Tausenden von Jahren tradiert und ist fester Bestandteil der medizinischen Ausbildung. Erst auf das Kapitel über die Gesundheitslehre, Swasthavritta, folgt das Kapitel praktischer Anwendungen, genannt Pancakarma. In den abschließenden Kapiteln widmet der Autor sich schließlich der Frage nach dem Yoga und Ayurveda, der ayurvedischen Wohnkultur, Vastu, um schlussendlich einige beispielhafte ayurvedische Strategien bei verschiedenen Krankheiten zu beschreiben.
Immer wieder taucht in dem Buch die Bezeichnung Caraka-Samhita auf. Diese ist die älteste ayurvedische Textsammlung, deren schriftliche Abfassung etwa 3500 Jahre zurück liegen dürfte. Bis zum heutigen Tag dienen diese Sanskrit-Texte den Ayurveda-Studenten zum Studium. Eine historische Person ist als Autor nicht fassbar, aber aus den Texten geht der Name Sushruta hervor, der die Unterweisungen des Lehrers Dhanvantari entgegennimmt.
Es gibt drei pathophysiologische Faktoren (Dosha), nämlich Vata, Pitta und Kapha. In ihrem normalen Entwicklungsstand unterstützen sie die physiologischen Vorgänge des Körpers. Im abnormalen Zustand führen sie zu verschiedenen pathologischen Abläufen im menschlichen Organismus.¹
Auf den Seiten 294 – 306 findet der Leser eine Liste mit Heil- und Gewürzpflanzen und ihren Eigenschaften für die Gesundheit. Die ayurvedischen Heilanwendungen sind jedoch unglaublich vielfältiger Art, so dass die Größe und das Gewicht des Kompendiums wahrlich nicht verwunderlich sind. Natürlich handelt es sich hier um ein Buch mit einer praktischen und nicht spirituellen Thematik. Das tiefgründige philosophische Weltbild Indiens durchdringt aber auch dieses Werk in deutscher Sprache mit einem Geist von Ehrfurcht und Würde. Der Autor berichtet von seinen Erfahrungen, ohne an irgendeiner Stelle überheblich hervorzutreten.
Dies dürfte die eigentliche und einzige Hürde sein, die von der Lektüre dieses Buches abhalten könnte: Man muss bereit sein, sich auf eine fremde Welt und ein fremdes Denken einzulassen, Neue Prinzipien kennen zu lernen, die natürlich auch an neue Begriffe geknüpft sind. Wer diese Bereitschaft besitzt, für den wird es sich um eine anregende, aufbauende und immer wieder interessante Lektüre handeln.
Spiritueller Wert 3/5
Praktischer Wert 5/5
Hans-Heinrich Rhyner, Das Praxis Handbuch Ayurveda, Hardcover, 552 Seiten, Urania Verlag 2000, ISBN 390864559X
Das Buch ist online erhältlich unter derbuchhaendler.at, Thalia.at, suedwind-buchwelt.at.
(1) Caraka Samhita, Vimana Sthana, Kapitel 1, Vers 5
Bildquellennachweis (20-11-07): Amazon