Eine bewusstseinsbildende Übung
Betrachtung der Worte „Sinn“ und „Unsinn“ im Hinblick auf die darin enthaltene „seelische und geistige Substanz“.¹
Volker Engelhardt (Deutschland: Hausarzt, Umweltmedizin, Naturheilverfahren) antwortet im Video „Maskenpflicht – SINN oder UNSINN ?!“ auf die Frage: Ist es sinnvoll, Masken zu tragen? „…Wenn ich im OP bin, ist es klar, dass ich sie brauche, als Schutz nicht nur für die Operateure. … „Die Maskenpflicht im Allgemeinen, wie sie jetzt von der Bundesregierung eingeführt und von den Landesregierungen mitgetragen wurde, ist Blödsinn. … Die ganze „Maskerade“ schützt uns im Grunde genommen vor nichts.“²
Gegenwärtig quillt das Internet geradezu über von solchen und ähnlichen Diskussionen über Sinn und Unsinn der verschiedenen Coronamaßnahmen. Die „Coronazeit“ stellt die Bürger in vielerlei Hinsicht vor die Sinnfrage. Da diese, worauf ich später noch kommen werde, aber jeder Mensch nur auf individuelle Weise beantworten kann, möchte ich vielmehr einmal den Begriff „Sinn“ selbst in Form einer bewusstseinsbildenden Übung näher betrachten:
der Sinn
Was kommt einem dazu „in den Sinn“?
Lässt man einfach nur den geschriebenen Begriff etwas auf sich wirken, so tut sich in der deutschen Sprache damit eine doppelte Bedeutung auf, nämlich als „Lebenssinn“, als tiefere Bedeutung von etwas und als „Sehsinn“, als Sinnesorgan. Des Weiteren gibt es extrem viele Wortkombinationen und Ableitungen aus dem Grundwort, wie sinnvoll, Blödsinn, Sinnlichkeit, Besinnung, Unsinn, tiefsinnig, nachsinnen, etc.
Welche Tätigkeit steckt in dem „Sinn“?
In der Grundschule sagt man zu den Verben „Tunwörter“ und zu den Substantiven Haupt- oder Namenwörter. Heinz Grill regt dazu an, im Tunwort eine Bewegung oder seelische Regung zu entdecken, die im entsprechend davon abgeleiteten Namenwort eine Festlegung oder ein Resultat mit einer gewissen enthaltenen „Substanz“ findet. Demnach müsste die Aktivität des „Sinnens“ zu dem Inhalt „Sinn“ führen.
Was ist die Etymologie von sinnen?
Dem Verb sinnen wird eine indoeuropäische Wortwurzel -sent zugrunde gelegt, mit der Bedeutung: ‘eine Richtung nehmen, gehen’, übertragen ‘empfinden, wahrnehmen’. Während das Wort im Mittelalter durchaus auch eine materielle Bedeutung wie „sich auf den Weg begeben, reisen“ haben konnte, wird es heute nur auf übertragene Weise aufgefasst: „seine Gedanken in eine Richtung gehen lassen, sie auf etwas richten.“
Laut Wolfgang Pfeifer hat das Substantiv Sinn im Unterschied zum entsprechenden Tunwort sinnen seine rein übertragene Bedeutung bereits in der vorgermanischen Zeit erhalten und beinhaltet „Fähigkeit, Reiz zu empfinden; Denken, Gedanken, Gesinnung, Gemüt, Verstand, geistiger Inhalt.“³
Beispielhafte Verwendung des Begriffs Sinn in Geschichte und Gegenwart
I Die Bhagavadgita und die Sanskritsprache
Es gibt eine Sanskrit-Wortwurzel ṛt (sprich: rüt) sowie dessen Ablautstufe art, welche auf Englisch pursue, also verfolgen, fortfahren, betreiben, eine Richtung einschlagen bedeutet.⁴
Im Rigveda, der ältesten indischen Textquelle, bedeutet das aus der Wurzel ṛt abgeleitete Hauptwort artha Ziel, Zweck; sehr häufig findet man die Form arthe (mit Genitiv), die um…willen, wegen, im Interesse von… bedeutet. Diese Grundbedeutung des Ziels und Zwecks erweitert sich in späteren Schriften, so dass artha auch Grund, Motiv > Vorteil, Nutzen > Wohlstand, Geld > Sinn, Bedeutung heißen kann.⁵
In der Bhagavadgita behält das Wort artha die ganz konkreten Bedeutungen „Ziel, Zweck, Nutzen, um…willen, wegen“ bei, wie im Kapitel II, Vers 46:
yāvān artha udapāne sarvataḥ saṁplutodake |
tāvān sarveṣu vedeṣu brāhmaṇasya vijānataḥ ||46
„So viel Nutzen, wie in einer Quelle liegt, um die herum das Wasser in Fluten strömt, so viel Nutzen liegt in allen Veden für den Brahmanen, der zur wahren Erkenntnis gelangt ist.“ In den folgenden Versen erläutert Krishna den Sinn und Zweck des Yoga: „Derjenige, dessen Einsicht das Eins-Sein erlangt hat, weist schon hier in dieser Welt der Gegensätze beides, „gut“ oder „schlecht“ zu handeln, von sich. Strebe also danach, im Yoga gegründet zu sein, Yoga ist die Geschicklichkeit im Handeln.“ (Vers 50)⁶ ⁷
II Der Logos-Begriff in der antiken griechischen Philosophie
Das griechische Wort logos bezeichnet nach dem Metzler Philosophie Lexikon „immer die Einheit von Denken und Sprache sowie dem Gegenstand, von dem die Rede und auf den das Denken gerichtet ist. So ist der Logos als vernehmbarer und artikulierbarer Sinn das Medium, das den Menschen mit den Mitmenschen und der natürlichen und gegenständlichen Welt verbindet.“ Vor allem in der Lehre Heraklits ist Logos „das Wissen um die Sinnhaftigkeit des Lebens und der Welt, die in dieser selbst liegt und die im Umgang mit Menschen und Dingen erfahren wird, aber niemals absolut bestimmt und ausgesprochen werden kann.“ An diese antike Auffassung vom Logos knüpfte der Wiener Psychiater Viktor Frankl später mit seiner Logotherapie an.⁸
III Viktor Frankl (1905 – 1997), der Begründer der Logotherapie
Viktor Frankl hat nach seinen Erfahrungen in mehreren Konzentrationslagern sein Leben der Aufgabe gewidmet, anderen Menschen bei der Suche nach dem Sinn des Lebens zu helfen. Mit großem Einsatz hat er darauf hingewiesen, dass man mit der klassischen Psychotherapie nicht weiterkommen wird, wenn man die Sinnfrage nicht in die Arbeit mit den Patienten integriert.⁹
Aus seiner Arbeit in den Jahren der Wirtschaftskrise mit arbeitslosen Jugendlichen, die an Depressionen litten, berichtet Viktor Frankl in einem Vortrag: „Wie viele haben mir gesagt damals: Wissen Sie Herr Doktor, uns geht es ja gar nicht um Geld. Was wir brauchen, ist ein Lebensinhalt, ein Lebenszweck.“¹º
Diesen Lebenszweck muss nach Frankl jeder Mensch selbst entdecken lernen: „Sinn geben würde auf Moralisieren hinauslaufen. Und die Moral im alten Sinn wird bald ausgespielt haben. Über kurz oder lang werden wir nämlich nicht mehr moralisieren, sondern die Moral ontologisieren – gut und böse werden nicht definiert werden im Sinne von etwas, das wir tun sollen beziehungsweise nicht tun dürfen, sondern gut wird uns dünken, was die Erfüllung des einem Seienden aufgetragenen und abverlangten Sinnes fördert, und für böse werden wir halten, was solche Sinnerfüllung hemmt. Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden.“¹¹
IV Heinz Grill und die Sinnfrage über ein Thema
Anknüpfend am Sinnbegriff von Viktor Frankl konkretisiert Heinz Grill die Sinnfrage noch weiter: „Um was es sich dabei handelt, ist, dass der Einzelne, z. B. ein in einem sozialen oder wirtschaftlichen Beruf stehender Mensch, sich durch Empathie eine Anschauung über die Zeit und über seine Mitmenschen bildet, wie es dem Gegenüber ergeht, und dass er schließlich auch gute Literatur liest oder sich zumindestens mit Themeninhalten auseinandersetzt. Und dass er von dem ausgehend zu seiner eigenen Erkraftung sinngemäßer Art – Viktor Frankl sagte es mit diesen Begriffen, dass für das Individuum wieder mehr eine Sinnfrage über das Thema entsteht – und zu einem gesunden Bewusstsein des Gegenübers, des Gemeinschaftlichen und auch der Verantwortung gegenüber der ganzen Weltensituation gelangt.“¹²
Zusammenfassend könnte man sagen, dass der Sinn in der Substanz eigentlich etwa sehr Konkretes, aber dennoch nicht etwas Profanes ist. Zu Zeiten der Bhagavadgita sprach man vom Ziel und Zweck einer Sache, wobei jedoch niemals die Ausrichtung verlassen wurde, dass der Sinn, um den sich alles dreht, das „Gegründetsein in der Einsicht des Eins-Seins mit dem Göttlichen“ besteht. Zu Zeiten der griechischen Antike erlebte man noch eine reale, das Weltenall durchwaltende Vernunft, der der einzelne Mensch in seinem Leben einen Ausdruck zu geben versuchte. Viktor Frankl hat sich der Aufgabe gewidmet, den Menschen bei der Erforschung dieser individuellen Sinngebung für ihr Leben zu helfen. Und Heinz Grill konkretisiert noch einmal diese Erfahrung, wenn er von der Sinnfrage spricht, die „über ein Thema entsteht“.
V Die Katholische Kirche: „Sinn kann nicht selbst geschaffen werden, sondern wird von außen zugetragen“
Ganz anders als Viktor Frankl hat die Katholische Kirche den Logos-Begriff in die eigene Lehre aufgenommen und interpretiert. Joseph Ratzinger äußert sich dazu folgendermaßen in einem Gespräch: Der Glaubende „hat doch das Besondere, zu wissen, dass er gewollt ist, dass er gebraucht wird, dass er eine Aufgabe hat, dass eine Idee von ihm da ist. Dieses Wort am Anfang des Johannesevangeliums „Am Anfang war das Wort“ kann man ja auch übersetzen „Am Anfang war der Sinn“ und es ist für mich persönlich dies auch immer etwas ungeheuer Tragendes, zu wissen, dass vorausgehend ein Wille, eine Liebe ist, die mich gedacht hat, ehe ich mich selber dachte und kannte, die mich will und die mich auch immer noch trägt, auch wenn ich selber nichts Besonderes mehr ausrichten kann, wenn ich selber keinen Sinn mehr schaffen kann.“ ¹³
Durch das Verleugnen der geistigen Natur des Menschen¹⁴ hat die Katholische Kirche eine Trennung zwischen einem fernen, allmächtigen Gott und einem unmündigen, kleinen Menschen geschaffen. Und so ordnet Ratzinger den Sinn dem Willen und der Liebe Gottes zu, während der Mensch dazu bestimmt ist, einmal „selber nichts Besonderes mehr ausrichten“ zu können.
VI Wenn das Leben nur noch Unsinn ist – Beispiel der Marianne B.
Eine gewisse Marianne B., die ich in meinen Beiträgen schon des öfteren erwähnt habe und die sich ausdrücklich als katholisch bezeichnet, wirft nun gerade Heinz Grill vor, er würde Unsinn sprechen und seine Bücher wären lediglich „Eine Aneinanderreihung von Wörtern, ohne Sinn und Verstand.“¹⁵ Das Wort Unsinn als Gegenteil von Sinn bedeutet nach den obigen Beispielen, dass die Verbindung zu der kosmisch waltenden Weltenvernunft fehlt, dass ein Wort oder eine Handlung keine wahre Logik aufweist. Die Worte von Marianne B. sind daher höchstwahrscheinlich Projektionen, ein Ausdruck der eigenen tiefen Sinnlosigkeit des Lebens, wie sie gerade bei sogenannten „Neureichen“ häufig zu finden ist.¹⁶ Anders lässt es sich nach meiner Meinung kaum erklären, wie jemand dazu kommen kann, die Aussagen und Schriften eines Menschen, der andere über beziehungsaktiven Dialog und einen Reichtum an Themeninhalten in ihrer Sinnorientierung fördert, als Unsinn zu betiteln.
Ein Satz, der die obigen Betrachtungen in schlussfolgernder Weise zusammenfasst, könnte folgendermaßen lauten:
Der inhaltsreiche Sinn, der den Menschen auf gute und empathische Weise mit der Welt verbindet.
In der Arbeit mit verschiedenen Personen bemerke ich eine große Freude, wenn es gelingt, einen unkonkreten und automatisch benutzten Begriff in der beschriebenen oder einer ähnlichen Weise zu vertiefen. Diese Freude wirkt sich unmittelbar immunstärkend aus und kann gerade in der Coronazeit zur Überwindung der nach wie vor kollektiv spürbaren Angstströme beitragen.
Textquellen und Anmerkungen:
(1) Die Art der Auseinandersetzung orientiert sich an einer im Buch Übungen für die Seele von Heinz Grill beschriebenen Darlegung.
(2) Das Video wurde am 10. Mai 2020 auf youtube eingestellt und ist unter folgendem Link abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=p_zehwbaY90
(3) Eine ausführliche etymologische Darlegung findet sich in dem Online-Wörterbuch DWDS zum deutschen Wortschatz, Stichwort sinnen: https://www.dwds.de/wb/sinnen und Stichwort „Sinn“, in: Wolfgang Pfeifer et al., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen (1993), digitalisierte und von Wolfgang Pfeifer überarbeitete Version im Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/wb/etymwb/Sinn>, abgerufen am 19.07.2020.
(4) Whitney Roots, https://www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/scans/csl-whitroot/disp/index.php
(5) Monier-Williams, Sanskrit-English Dictionary 1899, https://www.sanskrit-lexicon.uni-koeln.de/scans/MWScan/2014/web/webtc/indexcaller.php
(6) Bhagavad-Gita, Large Print Edition, http://www.sanskritweb.de
(7) Sri Aurobindo, Bhagavadgita, Verlag Hinder + Deelmann 2013, ISBN 9783873481633
(8) Metzler Lexikon Philosophie; https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/logos/1242, abgerufen am 24.07.2020
(9) siehe z.B. folgenden im Internet abrufbaren Originalvortrag von Viktor Frankl: https://www.mediathek.at/portaltreffer/atom/015719FB-312-001ED-00000BAC-01563965/pool/BWEB/ , abgerufen am 24.07.2020
(10) Podcast im BR2 vom 17.10.2018, Viktor Frankl – Sinn des Lebens, Sinn des Leidens, https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/viktor-frankl-sinn-des-lebens-sinn-des-leidens-1/33972, abgerufen am 24.07.2020
(11) Viktor Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk. 19. Auflage. Piper, München 2006, ISBN 978-3-492-20289-3, S. 155.
(12) Zitat aus youtube: Live – Interview mit Heinz Grill – Die Kunst des Demonstrierens, https://www.youtube.com/watch?v=Zfo29tGTMnA
(13) Zitat aus youtube: Josef Ratzinger über den Sinn des Lebens…, https://www.youtube.com/watch?v=HN_wy8KlXPA
(14) So geschehen seit dem Jahr 553 n. Chr. beim 5. Ökumenischen Konzil zu Konstantinopel und von da an in späteren Konzilen weiter fortgesetzt.
(15) Noch unveröffentlichter Kommentar (am 13.01.2019) von Marianne B. zu meiner Buchbesprechung über Heinz Grill, Erklärung, Prophylaxe und Therapie der Krebskrankheit.
(16) siehe dazu das Buch von Christian Kreiß, Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, Verlag tredition 2019, ISBN 978-3749757909