Soham Shivoham, Sanskrit-Mantra

Bei „Soham Shivoham“ handelt es sich um ein Sanskrit-Mantra, das der indischen Tradititon des Shaivismus, also der Shiva-Verehrer, und des Yoga entspringt. In der wörtlichen Übersetzung bedeutet es: „Ich bin Er, ich bin Shiva.“¹

 

Ist Shiva der böswillige Zerstörer?

„Soham Shivoham“ ist ein sehr wichtiges Sanskrit-Mantra. Gemäß dem Hinduismus bildet Shiva zusammen mit Brahma und Vishnu eine religiöse Dreiheit von Schöpfer, Erhalter und Zerstörer. Shiva wäre nach dieser Tradition der Zerstörer. Wie kann dieser „zerstörerische“ oder „auflösende“ Aspekt Shivas verstanden werden? Erste Aufschlüsse kann man z.B. aus der Lektüre von Swami Sivanandas Werk „Lord Siva and His Worship“ erhalten, woraus ich im Folgenden das Kapitel „Rudra of the Upanishads“ komplett in deutscher Sprache wiedergeben möchte.²  Swami Sivananda bezieht sich hier auf „Rudra“ (der Brüller oder Heuler, in Anspielung auf eine Sturm- und Wettergottheit) da in den älteren vedischen Texten nur von Rudra die Rede war, erst später wurde dessen Beiname „Siva“ (der Glückbringende) die geläufigere Bezeichnung für diese bedeutende Gottheit.

Swami Sivananda über Rudra in den Upanishad

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Tanzender Rudra, das Böse fällt ins Feuer.

„Einige ignorante Personen denken, dass Rudra eine böswillige, terrorisierende Gottheit sei, die Zerstörung verursacht. Sie glauben, dass Rudra der Gott der Bestrafung sei. Das ist nicht so. Rudra ist der Gott, der Wohlstand verleiht und das Leiden zerstört. Er ist eine wohlwollende Gottheit, die Glück, Nachwuchs und einen guten Viehbestand verleiht. Er ist der Bringer oder die Quelle des Wohlstands.

„Siva“ oder „Rudra“ bedeutet „der, der die Sünden oder das Leiden wegnimmt.“ Die Namen Bhava (Ursprung), Sharva (Donnerkeil), Pasupati, Ugra (der Mächtige), Mahadeva (großer Gott), Isana (der Leuchtende) and Asani (der Erleuchter) werden Rudra beigefügt. Pasupati bedeutet „der Herr“ oder „der Beschützer der Viehherde.“

In den Veden findest du Gebete wie: „O Rudra! Schenk uns eine reiche Nachkommenschaft.“ „Du, o Rudra, bist der Herausragende unter allen Geschöpfen, der Stärkste der Starken, ungetümer als Blitz und Donner; beschütze uns, trage uns glücklich durch alle Ungeschicke, vertreibe alle Teufel.“ „Entferne von uns jede Sünde, die wir ausgeführt haben.“ Aus diesem Grund ist Rudra kein Schrecken erzeugender Gott, sondern jemand, der Wohlstand oder Glück zuweist. Er ist der eine große Herr des Universums.

Rudra ist das Vorbild der Bettler, denn allein Rudra wird von allen Göttern als der bettelnde Gott bezeichnet. In den Hymnen des Rigveda heißt es, dass er den Wassertopf der Asketen besitzt.

In der Svetasvatara Upanishad, Kapitel III, heißt es: „ Es gibt nur einen Rudra, der mit seiner Macht allen Welten befiehlt. Niemand ist als zweites neben ihm. Er ist in den Herzen aller Dinge anwesend. Er erschafft und erhält alle Welten und zieht sie zuletzt wieder in sich selbst zurück.“

Rudra repräsentiert hier Para Brahman oder das Höchste Selbst, das Unbegrenzte oder Absolute.

Nachdem er alle Dinge kreiert hat, zieht er sie zusammen oder nimmt sie alle in sich Selbst zurück am Ende der Zeit, d.h. während des kosmischen Pralaya oder der Auflösung.4

Rudra ist der zerstörende Aspekt Shivas. In der kosmischen Hierarchie gibt es 11 Rudras. Esoterisch betrachtet stellen die Pranas (oder die zehn Sinne) und der menschliche Geist die 11 Rudras dar. Sri Hanuman³ ist eine einzige Manifestierung des Rudra-Aspekts.

In der Siva-Purana ist Rudra ein anderer Name für Siva. Rudra ist der, der die Sünden zerstört und der das Elend der ihm zugewandten Verehrer wegnimmt und ihnen Weisheit und Gnade erweist. Rudra ist der Antaryamin oder der, der in allen Dingen wohnt. Er ist stiller Zeuge der Handlungen und Gedanken der Menschen und weist den Handlungen ihre Früchte zu.

„Der eine Gott, der seine Augen, sein Gesicht seine Arme und Füße an jedem Ort hatte, als er den Himmel und die Erde erschuf, schmiedet Himmel und Erde mit seinen Armen und Flügeln zusammen“.

Möge Rudra, der Schöpfer und Erhalter der Gottheiten, der große Seher, der Herr über alle, der zuerst Hiranyagarbha5  erschuf, möge er uns mit guten Gedanken (dem reinen Intellekt) ausstatten.

„Rudra, mit Deiner glückverheißenden Form, die nicht schrecklich ist und die das Heilige manifestiert, mit dieser all-gesegneten Form erscheine uns, o du, der du in den Bergen wohnst.“

„Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe“

Der indische Weise und Heilige Babaji übersetzt das Mantra Soham Shivoham für seine westlichen Schüler mit dem biblischen Wort „Herr, nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ (Lk22,42). Insofern kann es interessant sein, auch dieses Bibelwort etwas näher zu beleuchten und dazu möchte ich auf eine Ausführung von Rudolf Steiner zurück greifen. Dieser antwortet auf eine Frage nach der Berechtigung des Gebets unter anderem Folgendes:

Beten um äußerliche Dinge ist nicht im Sinne des Urchristentums. „Vater, nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Was ist der Wille des Vaters im urchristlichen Sinne? Derjenige Wille, welcher das Urgesetz aller Weltentwicklung darstellt. Ich will, dass meine Erfolge und Wünsche so vollkommen seien, dass sie dem Sinne des Willens des Vaters , das heisst, dem geistigen Weltgesetz entsprechend seien, dass sie nicht abweichen von dem großen geistigen Weltengesetz. – Ein Gebet in diesem Stile ist vorhanden, wenn nicht das zu Erflehende heruntergezogen werden soll zu uns, wenn nicht unser Wille durchgehen soll, sondern wenn wir mit unserem Willen hinaufgehoben werden, wenn die Vergöttlichung damit angestrebt wird, die Auferstehung der Seele im Göttlichen, im Christlichen.“6

Wie kommt der Mensch dahin, dass er das wünscht, was „das Urgesetz aller Weltenentwicklung darstellt“ und nicht seinen persönlichen Vorlieben und Emotionen den Vorrang gibt? Eine praktische Antwort hierauf findet man in einer Vortragsniederschrift von Heinz Grill über das Mantra OM Namah Shivaya.“

Heinz Grill über Shiva als die Feuerkraft des personalen Selbstbewusstseins

Wenn wir den Siva-Gott auf praktische Weise in der westlichen Welt finden wollen, so müssen wir ihn dort suchen, wo von dem Menschen die höchste Askese, die größte Buße und der bis an die Grenzen des Ertragbaren reichende Verzicht gefordert wird. Siva oder die reine Feuerkraft des personalen Selbstbewusstseins wird dann im täglichen Leben nötig, wenn die Menschen Ungerechtigkeiten ertragen müssen, wenn sie in ihrem Wesen oder Glauben von der Gesellschaft verachtet oder verpönt werden, wenn sie ihre Heimat oder Geborgenheit verlieren oder wenn manche in einer schweren Krankheit ihr Inneres in der Kausalität der Wirkungen erleben lernen, dann ist eine Schöpferkraft im vertikalen, aufgerichteten Selbstbewusstsein aus einem ureigenen Willen und seiner Belastbarkeit gefordert. Diese Menschen, die bis hin zu den tiefen Gründen ihres Selbstbewusstseins die Konfrontation mit dem Geist der Zeit und den Bedingungen des materiellen gesellschaftlichen oder nationalen Lebens aufnehmen, entwickeln meist ein besseres Bewusstsein für die körperfreie Dimension des Erlebens und erfahren in ihrer Willensglut die Religion von einem innersten Standpunkt des Selbstwerdens.7

Somit handelt es sich bei dem Mantra „OM Namah Shivaya“ oder „Soham Shivoham“ um ein sehr ernstes, aber auch um ein befreiendes Mantra. Wer kennt nicht die Situation, dass man sich aus einem unvernünftigen Eigenwillen heraus in Verhältnisse verstrickt, die immer mehr in eine Enge führen? Ja, es scheint sogar so, als sei mit Corona die ganze Welt an eine solche Situation gekommen, wo nur noch der Blick zu Shiva und zu den Absichten der geistigen Welten einen Ausweg zeigen können. Die Politik erscheint jedenfalls wie getrieben von verschiedenen Machtinteressen und unfähig zu sinnvollen und rationalen Überlegungen.

 

Anmerkungen und Textquellen:

(1) saḥ = Er, aham = ich, śiva = Shiva. Gemäß den Lautgesetzen des Sanskrit werden die Worte saḥ und aham zu soham zusammengezogen und śiva + aham ergibt śivoham.

(2) Sri Swami Sivananda, Lord Siva and His Worship, A DIVINE LIFE SOCIETY PUBLICATION, World Wide Web version 2000, https://www.dlshq.org/download/lordsiva.htm

(3) Die Affengottheit Hanuman gilt als der treueste Diener des göttlichen Prinzen Rama. Gemäß der Legende sprang er mit einem einzigen großen Spagatschritt von Indien nach Ceylon, um die geraubte Geliebte Rama’s, Sita, zurück zu holen.

(4) Zur Aktualität und Bedeutung von pralaya, siehe den Beitrag Jahresausblick auf 2021 von Heinz Grill

(5) Hiranyagarbha (goldenes Ei) wird die himmlische Keimzelle genannt, aus der die ganze irdische Schöpfung hervorging.

(6) Rudolf Steiner, Ursprung und Ziel des Mensche, GA 53, S. 88/89

(7) Heinz Grill, OM Namah Shivaya, unveröffentlichte Vortragsmitschrift

 

Bildnachweis (21-02-02): mountain-Bild aus pixabay, Rudra-parolesenzasuono.wordpress.com

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