Rezension des Buches mit dem Untertitel „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“.
So wie ein Mahatma Gandhi weltweit zum Symbol für gelebte Gewaltlosigkeit geworden ist, so ist gleichermaßen Viktor Frankl ein Symbol für den gelebten Sinn des Lebens. Beide haben sie den von ihnen vertretenen Wert nicht theoretisch gepredigt, sondern bis in alle Phasen ihres Daseins authentisch durchlebt und durchlitten. Zum Biographischen möchte ich mich bei Viktor Frankl kurz halten, denn es wird auf diesen Seiten noch eine eigene Kurzbiographie unter der Rubrik „Unabhängige Denker“ veröffentlicht werden.
Viktor Frankl als Bürger Österreichs
Der Neurologe, Psychiater und Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl (1905 – 1997) war vom 25.9.1942 bis zum 27.4.1945 Gefangener zunächst im Ghetto Theresienstadt, dann in Auschwitz, dann im KZ-Kommando Kaufering und zuletzt in Türkheim bei Dachau, wo er von den Alliierten befreit wurde. Im Dezember 1945 diktierte er in nur neun Tagen das vorliegende Buch, womit er seine Erlebnisse zugleich ein Stück weit verarbeiten konnte. Hans Weigel schildert im Vorwort die Geschichte dieses Buches (nicht ganz unähnlich der Dokumentation über den Nürnberger Ärzteprozess Medizin ohne Menschlichkeit). Eine erste Auflage von dreitausend Exemplaren eines Wiener Verlages wurde zwar komplett verkauft, aber die zweite Auflage blieb dann beim Verlag liegen: Österreich wollte sich anscheinend nicht mit dem Schicksal ihres Bürgers Viktor Frankl konfrontieren.
Nach 12 Jahren erschien in Amerika eine englische Ausgabe des Werkes, die schließlich in 50 Auflagen über 2 Millionen Mal (!) verkauft wurde und wohl vielen Menschen das Leben gerettet hat, bzw. zur Bejahung des Sinnes des Lebens verholfen hat, gerade Menschen, die in scheinbar ausweglosen Situationen gefangen waren. Bis zu einer neuen deutschsprachigen Ausgabe, die erstmals die österreichischen Grenzen überschreiten konnte, dauerte es jedoch noch sehr lange, nämlich bis zum Jahr 1977. Immerhin ist heute davon die zehnte Auflage im Handel und seit 2018 gibt es das Buch auch im Taschenbuch- und E-book-Format.
Das Buch enthält also eine Schilderung der Erfahrungen im Konzentrationslager, nach psychologischen Gesichtspunkten angeordnet. Der Autor unterscheidet die Phase des Aufnahmeschocks, die Phase der „Depersonalisierung“ während der Zeit im Lager und die Phase der Zeit nach der Entlassung. Diese dritte Phase hat er in einem zweiten Anlauf, ein Jahr nach seiner Entlassung niedergeschrieben. Am Schluss des Buches findet sich zudem die Komposition eines kleinen Bühnenstücks, bei dem Kant, Spinoza und Sokrates sich mit einem Vorfall im Konzentrationslager befassen.
Einblicke in die Psychologie eines Lagerinsassen
Wer einmal den Mut hatte, sich näher mit der grauenvollen Realität der Konzentrationslager zu befassen, hat sehr wahrscheinlich die Gefühlsreaktion der Unerträglichkeit und des Nicht-Glauben-Wollens erfahren. Viktor Frankl gelingt es nun mit seiner Schilderung, das persönlich erlebte Geschehen nachvollziehbar werden zu lassen. Indem er zugleich um die distanzierte Haltung eines Psychologen bemüht ist, verlieren sich seine Ausführungen nicht in subjektiven Emotionen, sondern erleichtern dem Leser sogar eine Art Einordnung und ein Verständnis für die berichteten Ereignisse.
Unter dem Stichwort „Depersonalisierung“ fasst er die Erfahrungen zusammen, die die Lagerinsassen zumeist durchgemacht haben, beginnend mit einer inneren Apathie:
Die Apathie als Hauptsymptom der zweiten Phase ist ein notwendiger Selbstschutzmechanismus der Psyche. Die Wirklichkeit wird ausgeblendet. Alles Trachten und damit auch das gesamte Gefühlsleben konzentriert sich auf eine einzige Aufgabe, die pure Lebenserhaltung – die eigene und die gegenseitige! So konnte man immer wieder hören, wie die Kameraden, wenn sie am Abend vom Arbeitsplatz ins Lager zurückgehetzt wurden, in den typischen Stoßseufzer ausbrachen: „Nun, wieder ein Tag vorbei!“¹
Weitere wesentliche Erfahrungen der Häftlinge bestanden im Hunger und Unterernährung, in einer Haltung von Unsentimentalität, im schmerzvollen Erleben des Hohnes, der die Schläge der Lageraufseher begleitete, in der Flucht nach innen und der Sehnsucht nach Einsamkeit sowie – erstaunlicherweise – auch in Ansätzen von Natur- oder Kunsterleben und sogar Humor. Die Depersonalisierung aber führt immer mehr zu einer „radikalen Wertlosigkeit des einzelnen Menschenlebens“.
Von der radikalen Wertlosigkeit des einzelnen Menschenlebens, zu der es im Lagerleben herabsinkt, kann sich wohl überhaupt nur derjenige einen Begriff machen, der die dortigen Zustände selber miterlebt hat. Dam dadurch gleichzeitig Abgestumpften konnte aber diese Missachtung der Existenz menschlicher Individuen am ehesten noch dann zu Bewusstsein kommen, wenn etwa im Lager ein Krankentransport abgefertigt wurde. Auf zweirädrigen Karren, die von den Häftlingen viele Kilometer weit durch den Schneesturm gezogen werden mussten, bis man ins andere Lager kam, auf diesen Karren wurden die ausgezehrten Leiber der zum Transport Bestimmten einfach nur so hinaufgeschmissen. Gab es einen Toten, so musste er mit dazu: die Liste musste stimmen! Die Liste ist das Wichtigste, der Mensch nur so weit wichtig, als er eine Häftlingsnummer hat, buchstäblich nur mehr eine Nummer darstellt. Tot oder lebendig – ds gilt hier nicht mehr; das „Leben“ der „Nummer“ ist irrelevant. Was hinter dieser Nummer, was hinter diesem Leben steht, ist noch weniger erheblich: das Schicksal – die Geschichte – der Name eines Menschen.“²
Die Auseinandersetzung mit dem Bösen
Will man zu diesem höchst authentischen Zeitzeugnis eine kritische Anmerkung machen, so wäre wohl lediglich darauf hinzuweisen, dass es bestimmt nicht jedermanns Sache ist, sich dermaßen konkret mit der Realität des Bösen in der Welt zu konfrontieren. Denn man sieht schon an der Wirkung von Frankls Bericht bei den vielen Lesern im englischsprachigen Raum, dass dieses Thema nicht auf die Vergangenheit, als bloße schlimme Erinnerung, eingegrenzt werden kann. Ich muss gestehen, dass ich selbst eine Weile gezögert habe, bis ich mir dieses Buch dann gerade aus dem Grund bestellt habe, weil ich es für sehr wichtig halte, der Tatsache, dass es ein Böses gibt, nicht auszuweichen.
Und gerade hier leistet die Person Viktor Frankl Vorbildliches, nicht nur mit seinem Buch, auch danach mit seinem ganzen Lebenswerk: Niemals hat er den Gedanken der Kollektivschuld gefördert, sondern im Gegenteil immer darauf verwiesen, dass es selbst unter den Lageraufsehern Ausnahmen gab.
Auch unter der Lagerwache gab es Saboteure. Ich will hier nur jenen Lagerführer aus dem Lager, in dem ich zuletzt war und aus dem ich befreit wurde, erwähnen. Er war SS-Mann. Nach der Befreiung des Lagers stellte sich jedoch heraus, wovon bis dahin nur der Lagerarzt (selber ein Häftling) wusste: Der Lagerführer hatte aus eigener Tasche nicht geringe Geldbeträge insgeheim hergegeben, um aus der Apotheke des nahegelegenen Marktfleckens Medikamente für seine Lagerinsassen besorgen zu lassen! Die Geschichte hatte ein Nachspiel: Nach der Befreiung versteckten jüdische Häftlinge den SS-Mann vor den amerikanischen Truppen und erklärten deren Kommandanten gegenüber, sie würden ihm den SS-Mann einzig und allein unter der Bedingung ausliefern, dass ihm kein Haar gekrümmt wird. Der amerikanische Truppenkommandant gab ihnen nun sein Offiziersehrenwort, und die jüdische Häftlinge führten ihm den gewesenen Lagerkommandanten vor. Der Truppenkommandant ernannte den SS-Mann wieder zum Lagerkommandanten – und der SS-Mann organisierte für uns Lebensmittel- und Kleidersammlungen unter der Bevölkerung der umliegenden Dörfer.“³
Das Buch ist als Erlebensschilderung gedacht und enthält kaum historische Daten. Gerade die Echtheit des Erlebten macht es jedoch zu einer wertvollen und empfehlenswerten Lektüre für Menschen, denen die Frage auf dem Herzen liegt, wie man mit dem Bösen in der Welt und im einzelnen Menschen umgehen kann. Im Grunde genommen ist dies eine zutiefst spirituelle Fragestellung.
Spiritueller Wert 4/5
Praktischer Wert 1/5
Anmerkungen:
(1) S. 51
(2) S. 84
(3) S. 129
Viktor E. Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Hardcover, 192 Seiten, Kösel Verlag 2018, ISBN 9783466368594. Penguin Verlag 2018, Taschenbuch, ISBN 9783328102779 (auch als E-Book).
Das Buch ist online erhältlich auf den Seiten: derbuchhaendler.at, Thalia.at, suedwind-buchwelt.at.
Bildquellennachweis (21-04-29): suedwind-buchwelt.at
Hi Alina,
das finde ich mutig von dir, gerade jetzt Bücher zum Thema des Bösen vorzustellen, wo wir doch täglich von negativen Einflüssen geradezu überflutet werden. Ich sehe es aber auch so, dass man nur gestärkt daraus hervor gehen kann, wenn man sich dazu überwindet, auch den hässlichen und boshaften Seiten im Leben und in einzelnen Menschen ins Auge zu schauen. – Übrigens findet vom 7.-8. Mai 2021 zu diesem Thema eine Tagung am Bodensee statt: „Mut zur Auseinandersetzung mit dem Bösen – Wahrnehmen und Verwandeln des Bösen im Zeitgeschehen“. Dort referieren Prof. Dipl. Ing. Karl-Dieter Bodack, Dr. Michael Birnthaler und Heinz Grill. Infos gibt es bei Frau Katrin Staab, staab_katrin[at]web.de.