Teil II – Logotherapie und Berufsjahre nach 1945
Wachsende internationale Bekanntheit mit Ehefrau Elli an der Seite
„Der Prophet im eigenen Land ist nichts wert.“ Dieser Spruch bewahrheitet sich auch angesichts des Lebens von Viktor Frankl. Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager sind es seine Freunde, die ihm raten, sich zu habilitieren und die ihm zu einer Anstellung als Vorstand der Wiener neurologischen Poliklinik verhelfen, die er für die nächsten 25 Jahre innehat. Während er in Österreich jedoch vorwiegend nur in akademischen Kreisen bekannt bleibt, erlangt er spätestens nach der englischsprachigen Veröffentlichung des Buches „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ internationale Berühmtheit. In der englischen Fassung des Buches ist als zweiter Teil eine Einführung in die Logotherapie beigefügt. So stieg mit dem Interesse an Frankls Erfahrungen im Konzentrationslager auch das Interesse an der neu gegründeten Logotherapie.
Frankl wird nun zu Vorträgen auf der ganzen Welt eingeladen und seine zweite Ehefrau Elli, die er 1946 als Krankenschwester in seiner Klinik kennen gelernt hatte, begleitet ihn stets. Wenn es möglich ist, wählt er den Ort für den Vortrag nach dem Kriterium aus, dass er dort auch eine Klettertour unternehmen kann. Mit wie viel Respekt und Anerkennung man ihm im Ausland begegnete, schildert Frankl selbst an folgendem Beispiel:
An einem anderen Ort in Lateinamerika ließ es sich die First Lady nicht nehmen, an einem Tage alle drei Vorträge von mir zu besuchen – jeder einzelne dauerte zwei Stunden. Und ihr Mann, der Präsident des betreffenden Staates, lud mich zum Frühstück ein, um mit mir die kulturelle Situation seines Landes zu besprechen. Beide hatten meine Bücher gelesen. Ein Europa erzähle ich solche Geschichten niemandem. Niemand würde sie mir glauben. Umso mehr Spass macht es mir, sie einmal niederzuschreiben.¹
Im Jahr 1970 entsteht sogar der erste Lehrstuhl für Logotherapie in San Diego, Kalifornien, und Frankl ist sein Inhaber. In Europa jedoch wird die Logotherapie bis zum heutigen Tage in privaten Instituten unterrichtet.
Die Logotherapie und ihre erste Doktorandin Elisabeth Lukas
Wenn man heute von der Logotherapie spricht, so muss man auch den Namen Elisabeth Lukas (geboren 1942) erwähnen.² Sie war die erste Person, die für ihre Doktorarbeit das Thema der Logotherapie gewählt hat und wurde später Frankls bedeutendste Schülerin und Nachfolgerin. Ihr Anliegen ist die „Reinhaltung der Lehre“ im Sinne Frankls, während es heute zahlreiche Institute und Richtungen gibt, die die Existenzanalyse weiter entwickeln oder mit anderen psychotherapeutischen Stilformen verbinden.
Wenn auch in der Logotherapie bestimmte sehr erfolgreiche Techniken, wie die paradoxe Intention und die Dereflexion existieren, so besteht ihre Kunst vor allem darin, den Patienten auf individuelle Weise zu erfassen und das richtige Mittel, die richtige Intervention und vor allem das richtige Wort zu finden. Anstatt theoretischer Erläuterungen soll hier ein Beispiel aus der psychotherapeutischen Praxis Frankls zitiert werden:³
Herr Stefan, 58 Jahre alt, kommt aus dem Ausland, nur seinen Freunden zuliebe, denen er sein Wort verpfändet hat, sich nicht das Leben zu nehmen, ohne nach Wien gekommen zu sein und mit mir gesprochen zu haben. Seine Frau ist vor 8 Monaten gestorben, an einem Karzinom. Daraufhin hat er sich das Leben zu nehmen versucht, war wochenlang interniert, und auf meine Frage, warum er den Selbstmordversuch nicht wiederholt habe, antwortet er: „Nur deshalb nicht, weil ich noch etwas zu erledigen hatte.“ Und zwar hatte er sich um das Grab seiner Frau zu kümmern. Ich frage: „Und darüber hinaus haben Sie keine Aufgaben zu erfüllen?“ Darauf antwortet er: „Alles kommt mir sinnlos, nichtig vor.“ Ich: „Kommt es darauf an, wie es Ihnen vorkommt: ob nichtig oder nicht? Sie haben das Recht, das Gefühl zu haben dass nichts und niemand Ihnen Ihre Frau ersetzen kann; aber Sie haben auch die Pflicht, sich die Chance zu geben, einmal anders zu fühlen und die Zeit, zu der Sie es tun werden, überhaupt zu erleben.“ Er: „Ich kann keinen Geschmack mehr am Leben finden.“ Ich mache ihn darauf aufmerksam, es von ihm zu verlangen, wäre zu viel verlangt, aber die Frage ist, ob er die Verpflichtung hat, trotz allem weiter zu leben. Daraufhin er: „Pflicht?… Das sind Phrasen. Alles ist nutzlos.“ Und ich: „Geht so etwas wie Freundschaft und Ehrenwort, geht so etwas wie Grabsteine setzen – für Tote, das heißt, für Wesen, die nicht mehr real existieren – nicht über alle unmittelbare Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit hinaus? Wenn Sie sich verpflichtet fühlen, der Toten zuliebe einen Grabstein zu setzen – fühlen Sie sich nicht mehr verpflichtet, ihr zuliebe weiter zu leben?“
Tatsächlich hatte er das Verpflichtetsein jenseits utilitaristischer Erwägung unbewusst und unausdrücklich anerkannt. Es hatte nicht genügt, den Patienten beim Wort zu nehmen, wie es seine Freunde getan hatten: es galt, ihn bei der Tat zu nehmen… Faktisch hatte er sich so verhalten, wie einer, der an das Verpflichtetsein, mehr als dies: an einen höheren Sinn des Daseins, glaubt: an etwas, das ihm Sinn gibt zu jeder Zeit un so denn auch noch nach dem letzten Atemzug dessen, den er liebt, ja, bis zum letzten Augenblick seines Daseins.
Der Mensch und unabhängige Denker Viktor Frankl
Was ist nun das Besondere an diesem Menschen Viktor Emil Frankl, der am 2. September 1997 im Alter von 92 Jahren gestorben ist? Mit 87 Jahren hat er noch an einer Tagung in Toronto teilgenommen und damit zum Ausdruck gebracht, wie sehr er „den Sinn seines Lebens darin gesehen hat, anderen zu helfen, in ihrem Leben einen Sinn zu sehen.“4
Diese Einstellung wurde bei ihm zur authentischen Lebenshaltung. Sie zeigte sich zum Beispiel in der Gabe, sich ganz dem Augenblick zu widmen und nach der Forderung zu fragen, die dieser Augenblick an ihn stellt. Sie schenkte ihm Authentizität und Einfühlungsvermögen für die Jugend und deren Frage nach dem Sinn des Daseins. Und sie machte ihn zum Kämpfer für eine wahre Psychotherapie, die den Menschen gesund macht und ihn nicht in jahrelangen Behandlungszyklen noch kränker macht.
Eine der Maximen von Viktor Frankl war es auch, die Zeit nicht mit unnötiger Selbstbeschau zu vertun, sondern sich tatkräftig ins Leben zu stellen und aus den Taten die Persönlichkeit hervorscheinen zu lassen. Somit ist die Logotherapie als wichtiges Element moderner Psychotherapie und als Ausdruck seiner unabhängigen, individuellen, menschlichen Auseinandersetzung untrennbar mit der Person von Viktor Frankl verknüpft. Wenn heute logotherapeutische Gedanken wie zum Beispiel das Erfassen des Menschen in seiner Dreidimensionalität – Körper, Seele, Geist – in der Menschheit zu Allgemeingut werden, dann, so könnte man ahnen, ist es auch die Seele von Viktor Frankl, die dies aus geheimnisvollen Ebenen heraus befeuert.
Zum Teil I – Jugendjahre und die Zeit im Konzentrationslager
Anmerkungen und Quellenangaben:
(1) Viktor Frankl, Dem Leben Antwort geben, Autobiografie, Beltz Verlag 2017, ISBN 9783407864604, S. 162 (Bio)
(2) siehe Elisabeth Lukas, Pandemie und Psyche: Wege zur Stärkung der seelischen Immunität, Verlag Neue Stadt 2020, ISBN 978-3734612466
(3) aus „Theorie und Therapie der Neurosen“, Reinhardt, München, 7. Aufl. 1993, S. 187-188
(4) Bio, S. 172
Bildquellennachweis (21-05-07): de.wikipedia.org, innerpathway.com