Kurzbiographie eines Mannes, der die Sinnhaftigkeit des Lebens bis in die tiefsten Tiefen des Leidens realisiert hat.
Teil I – Jugend und Zeit im Konzentrationslager
Eine zielgerichtete Jugend in der Nachbarschaft von Freud und Adler
Es gibt Menschen, die bereits als kleines Kind wissen, was sie später werden wollen und diese Idee in aller Konsequenz die ganze Jugend und das spätere Leben hindurch verfolgen. Viktor Frankl war so ein Mensch. Am 26. März 1905 in Wien geboren, wollte er schon im Alter von drei Jahren später ein Arzt werden. Aber nicht nur der Arztberuf ist es, zu dem er sich als kleines Kind bereits hingezogen fühlt, sondern auch die Sinnfrage als wesentliche Lebensaufgabe zeigt sich schon sehr bald. In seiner Autobiographie¹ schildert Frankl ein bedeutendes Erlebnis:
Mit vier Jahren muss es auch gewesen sein, dass ich eines Abends kurz vor dem Einschlafen aufschreckte, und zwar von der Einsicht aufgerüttelt, eines Tages würde auch ich sterben müssen. Was mir aber zu schaffen machte, war eigentlich zu keiner Zeit meines Lebens die Furcht vor dem Sterben, vielmehr nur eines: die Frage, ob nicht die Vergänglichkeit des Lebens dessen Sinn zunichtemache. Und die Antwort auf die Frage, die Antwort, zu der ich mich schließlich durchzuringen vermochte, war die folgende: In mancherlei Hinsicht macht der Tod das Leben überhaupt erst sinnvoll. Vor allem aber kann die Vergänglichkeit des Daseins dessen Sinn aus dem einfachen Grunde nicht Abbruch tun, weil in der Vergangenheit nichts unwiederbringlich verloren, vielmehr alles unverlierbar geborgen ist. Im Vergangensein ist es also vor der Vergänglichkeit sogar bewahrt und gerettet. Was immer wir getan und geschaffen, was immer wir erlebt und erfahren haben – wir haben es ins Vergangensein hineingerettet, und nichts und niemand kann es jemals wieder aus der Welt schaffen.
Bereits als Obermittelschüler erwacht bei Viktor Frankl das Interesse für die Psychologie und er besucht in seiner Freizeit Vorträge an der Volkshochschule sowie von den Freud-Schülern Eduard Hitschmann und Paul Schilder. Schließlich beginnt er selbst einen Briefwechsel mit Sigmund Freud, der die ganze weitere Schulzeit hindurch anhält. Als 18-Jähriger wird zum ersten Mal ein Beitrag von ihm in der Jugendbeilage einer Tageszeitung veröffentlicht. Ein Jahr später legt er einen soeben ausgearbeiteten Artikel einem Brief an Freud bei und dieser lässt den Artikel „Zur Entstehung der mimischen Bejahung und Verneinung“ in der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ veröffentlichen.²
Freud-Adler-Frankl, die drei Wiener Schulen der Psychotherapie
An dieser Stelle sei einmal ein höchst spannender historischer Einschub für den nicht in Psychologie bewanderten Leser erlaubt: Der im Jahr 1856 geborene Sigmund Freud ist der Begründer der Psychoanalyse. Der etwas jüngere Alfred Adler (geboren 1870) arbeitete zunächst als Augenarzt und bezog dann eine Praxis als Allgemeinarzt in einem Haus gegenüber des Geburtshauses von Viktor Frankl. Von 1902 an nahm Adler an den Diskussionsrunden teil, die an jedem Mittwochabend von Sigmund Freud organisiert wurden. In der Folge entwickelte Adler die Individualpsychologie und es kam im Jahr 1911 zu einem Zerwürfnis mit Sigmund Freud. So konnte es nicht anders sein, als dass der junge Viktor Frankl ebenfalls in den Einflussbereich von Alfred Adler kam. Die zweite wissenschaftliche Arbeit Frankls wurde dann auch im Jahr 1925 in der „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“ publiziert. Erst einige Jahre später, als Frankl bereits Medizin studierte, begegnete er einmal zufällig Sigmund Freud persönlich und stellte sich ihm vor. Dieser fragte ihn unmittelbar: „Viktor Frankl – Wien, 2. Bezirk, Czernigasse 6, Tür 25 – nicht wahr?“ und brachte so zum Ausdruck, dass er durch den jahrelangen Briefwechsel Frankls Adresse auswendig gewusst hat.³
Und nun wiederholt sich die Geschichte: Der junge Viktor Frankl stört sich immer mehr an dem, was er „Psychologismus“ nennt. Damit meint er die damalige übertriebene Art und Weise, wie jede menschliche Reaktion als „triebgesteuert“ (nach Freud) oder als „egogesteuert“ (nach Adler) interpretiert wurde. Frankl wehrt sich dagegen und vertritt die Ansicht, dass es bei allen psychologischen Auffälligkeiten, die Menschen haben können, dennoch auch eine urmenschliche Ebene gibt, an der nicht herumzudeuten ist, weil sie aus dem authentischen Menschsein komme. Als er seine Haltung in einer öffentlichen Veranstaltung ausspricht, kommt es zum Zerwürfnis mit Adler und 1927 wird Frankl aus der Gesellschaft für Individualpsychologie ebenso ausgeschlossen wie zuvor Adler aus dem Kreis um Sigmund Freud.4
Die ersten Berufsjahre und das Klettern in der Seilschaft mit Rudi Reif
Noch bevor Frankl seinen Doktorabschluss macht, erhält er vom Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik die Erlaubnis, völlig frei psychotherapeutisch zu arbeiten. Bereits zuvor hatte er sich in der Jugendfürsorge engagiert und in verschiedenen Stätten Beratungsstellen für Jugendliche gegründet. Dies mit so großem Erfolg, dass es aufgrund einer Sonderaktion der Beratungsstellen zur Zeugnisverteilung im Jahr 1930 erstmalig in Wien keine Schülerselbstmorde gab. So kam es auch, dass er bereits mit 21 Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat und zu Vorträgen, u. a. nach Berlin, Prag und Budapest eingeladen wurde.
Nun aber, mit der praktischen Kliniksarbeit, kann Frankl seine Prinzipien entwickeln, die er später mit dem Begriff der Logotherapie zusammenfasst. Ab 1933 nennt er sie auch „Existenzanalyse“. Die Basis seiner Arbeit ist die Überzeugung, dass jeder Mensch in jedem Moment in der Lage ist, seinem Leben einen Sinn zuzuschreiben. Als Therapeut ist es die Aufgabe, den Patienten so zu begleiten, dass dieser selbst den Sinn seiner momentanen Situation oder seines Lebens erkennen und ergreifen kann. Entsprechend dieser Überzeugung unterscheidet Frankl beispielsweise drei Arten von Neurosen: somatogene, psychogene und noogene Angst-Neurosen, das heißt welche, die körperlichen, psychischen oder existentiell-geistigen Ursprunges sind.
In die gleiche Zeit der Jugend- und frühen Erwachsenenjahre fällt auch Frankls Begeisterung für das Klettern in den Bergen. Unter seinem Mentor und Kletterpartner Rudi Reif erlangt er das Bergführerabzeichen. Rudi Reif flüchtet später unter der Naziherrschaft nach Singapur. Dort, fern von allen Bergen, entwickelt er die Disziplin des gedanklichen Kletterns und geht in Gedanken immer wieder seine Kletterrouten durch. Dieselbe Methode rettet Viktor Frankl das Leben, als er mit Fleckfieber im Konzentrationslager liegt. Als Arzt weiß er, dass er sich unbedingt in der Nacht wach halten muss, um nicht ins Delirium zu fallen. Und so klettert auch Frankl in Gedanken immer wieder seinen Lieblingssteig auf der Rax hindurch, um nicht einzuschlafen. Rudi Reif ist einer der wenigen Jugendgefährten, mit denen Frankl nach der Zeit im Konzentrationslager wieder zusammen getroffen ist.5
Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager und sagt trotzdem „Ja!“ zum Leben
Der aufrichtige Charakter Frankls zeigt sich in der Begebenheit, als er im Jahr 1941 nach dreijähriger Wartezeit endlich ein Visum nach Amerika erhält. Um seine Eltern nicht alleine zu lassen, lässt er jedoch das Visum verfallen und bleibt als leitender Arzt der neurologischen Abteilung des für jüdische Patienten bestimmten Rothschild-Spitals in Wien tätig. In dieser Zeit gelingt es ihm, jüdische psychiatrische Patienten vor dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zu retten, indem er statt psychiatrischer Diagnosen (wie Schizophrenie) solche physischer Art (wie hirnorganisches Leiden) erstellt.6 – Wie aus der Dokumentation des Nürnberger Ärztprozesses hervorgeht, sind durch das heimlich durchgeführte Euthanasieprogramm von 1940 bis 1945 täglich 70 Menschen getötet worden. Oft handelte es sich auch um Kinder, deren Eltern dann nur eine Nachricht erhielten, ihr Kind wäre nach einer Verlegung verstorben. –
Am 25. September 1942 wird Frankl zusammen mit seiner Frau Tilly und seinen Eltern nach Theresienstadt deportiert. Er hat eine Ampulle Morphium dabei, die er einige Zeit später seinem sterbenden Vater spritzt und ihm so das Leiden des Erstickungstodes durch die Lungenentzündung erspart. Als sie nach Auschwitz kommen, wird er von seiner Frau getrennt. Viel später erfährt er, dass sie kurz nach der Befreiung durch die Alliierten im Lager Bergen-Belsen gestorben war. Frankl verliert auch seine Mutter. Dass er selbst bis zu seiner Befreiung aus dem Lager Türkheim überlebt hat, verdankt er vermutlich einer Einsicht, die er befolgt hatte. Er hatte nämlich beobachtet, dass diejenigen Menschen, die sehr auf sich selbst fixiert waren, eher unglückliche Situationen herangezogen hatten. Und so machte er es sich zu eigen, soweit dies in der Apathie eines halbverhungerten, frierenden Häftlings möglich war, auf das Wohl der anderen zu achten. Nur so konnte er sich später erklären, dass sich immer wieder Situationen ergeben haben, die für ihn lebensrettend waren.
In diesen fast drei Jahren in mehreren Konzentrationslagern wird nun Frankls Idee vom unbedingten Sinn des Lebens auf die große Probe gestellt. Frankl besteht diese Probe und macht die Erfahrung, dass in der ausweglosesten Situation es der Mensch selbst ist, der entscheidet, wie er sich zu den Bedingungen stellt. Und mit diesem „Wie“ kann er auch angesichts des Todes und des schrecklichsten Leidens die Sinnfrage positiv beantworten. Frankl berichtet:
Zwölf Zigaretten bedeuteten aber zwölf Suppen und zwölf Suppen nur allzu häufig eine wirkliche Lebensrettung vor dem Hungertode, für beiläufig zwei Wochen. …die gewöhnlichen Häftlinge pflegten Zigaretten, in deren Besitz sie auf dem Wege über Prämienscheine und somit über lebensgefährliche zusätzliche Arbeitsleistungen kamen, in Nahrungsmittel umzusetzen, außer sie hatten es aufgegeben, weiterzuleben, hatten ihre Situation für aussichtslos angesehen und beschlossen, die letzten Lebenstage, die ihnen noch zur Verfügung standen zu „genießen“: wenn ein Kamerad einmal begann, seine paar Zigaretten selber zu rauchen, dann wussten wir, dass er nicht mehr daran glaubte, weitermachen zu können – und es dann auch tatsächlich nicht konnte.7
Nur wenige Monate nach seiner Befreiung, im Dezember 1945 diktiert Viktor Frankl in neun Tagen das Buch Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Nach allem, was er an schlimmen Umständen erlebt hat, fällt seine klare Haltung auf, die sich jeder kollektiven Schuldzuschreibung enthält. In dem Buch und auch in zahlreichen späteren Vorträgen betont Frankl, dass es genauso Ausnahmen unter den sadistischen SS-Wachen gegeben hat, die sich korrekt oder sogar helfend gegenüber den Häftlingen verhalten haben, wie es auch Ausnahmen unter den sogenannten „Blockältesten“, also den Häftlingen gegeben hatte, die manchmal sich böser verhielten und ihre Mitgenossen noch viel mehr verprügelten als die Nazis.
Weiter mit Teil II – Logotherapie und Berufsjahre nach 1945
Textquellen und Anmerkungen:
(1) Viktor E. Frankl, Dem Leben Antwort geben, Autobiografie, Beltz Verlag, ISBN 9783407864604, (Bio) S. 14
(2) Bio, S. 56
(3) Bio, S. 56
(4) Bio S. 71
(5) siehe: Michael Holzer und Klaus Haselböck, Berg und Sinn: Im Nachstieg von Viktor Frankl, Bergwelten Verlag 2020, ISBN 978-3711200044
(6) Bio S. 97
(7) Viktor E. Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen, Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, Kösel Verlag 2015, ISBN 9783466368594, S. 22
Bildquellennachweis (21-05-07): consciencesansobjet.blogspot.com, britannica.com, da.wikipedia.org