Rezension der gesammelten Texte aus Briefen an seine Schüler von Sri Aurobindo über den Yoga.
Aurobindo Ghose (1872 – 1950) zählt zu den großen spirituellen Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts. Da sein Vater Wert darauf legte, dass er eine Erziehung im britischen Format habe, ließ er ihn in England studieren. Nach seiner Rückkehr in Indien schloss sich Aurobindo der indischen Unabhängigkeitsbewegung an. Gleichzeitig interessierte er sich für Spiritualität und erlernte in kürzester Zeit, Yoga und Meditation auf einem sehr hohen Niveau zu praktizieren. Als er wegen eines misslungenen Attentats, über das er angeblich Bescheid gewusst hatte, inhaftiert wurde, wandelte sich seine Sicht der Dinge. Nach einschneidenden spirituellen Erlebnissen während der Haft, die ein Jahr lang dauerte, traf er die Entscheidung, sein Leben ausschließlich der Spiritualität zu widmen. Von da an lebte und wirkte er in Pondicherry, wo sich bald ein Ashram um ihn herum bildete. Während er ein Leben in größter Zurückgezogenheit führte und alle irdischen Angelegenheiten in die Hände der „Mutter“, Mirra Alfassa (1878 – 1973), legte, nahm er dennoch größten Anteil am Weltgeschehen. So kämpfte er beispielsweise auf seine spirituelle Art, das heißt über die Kraft der Gedanken, gegen das Agieren Adolf Hitlers.
Das Büchlein Licht auf Yoga ist nun kein direkt von ihm verfasstes Werk, sondern enthält Auszüge aus seinen Briefen an Schüler, in denen er sich zum Thema Yoga geäußert hat. So eignet es sich auch als überschaubare Einstiegsliteratur für diejenigen Personen, die sich an die Gedankenart von Sri Aurobindo herantasten wollen. Es ist in vier Abschnitte und ein kleines Sanskrit-Glossarium unterteilt.
Sri Aurobindo’s „Integraler Yoga“
Wer nun nach den in der modernen Yogaliteratur meist üblichen Übungsbeschreibungen sucht, wird von Sri Aurobindo enttäuscht werden. Hier geht es um die philosophische Schau, um das Ziel (I. Abschnitt) des Yoga. Der folgende Abschnitt mag eine Andeutung dessen geben, weshalb er von einem „integralen“ Yoga spricht:
In den früheren Yoga-Arten galt das Suchen der Erfahrung des Geistes, der immer frei und eins mit dem Göttlichen ist. Die Natur sollte nur insoweit gewandelt werden, als es galt, sie davon abzuhalten, für dieses Erkennen und Erfahren ein Hindernis zu sein. Der vollständige Wandel bis hinab ins Physische wurde nur von wenigen angestrebt, und dann mehr als eine „Fertigkeit“, siddhi, nicht um eine neue Art im Erd-Bewusstsein zu offenbaren. S. 9/10
In diesem Sinne kann man von einem integralen Yoga sprechen, wenn das Ziel in einer vollkommenen Verwandlung des Menschen bis hinab ins Physische liegt.¹ Damit schlägt Sri Aurobindo eine andere philosophische Richtung ein, als es bei der berühmtesten Yogaschrift, den yoga-sūtra des Patañjali der Fall ist. Der Acht-Stufen-Pfad nach Patañjali setzt zwar durchaus bei bestimmten Lebensregeln (yama + niyama) an, führt aber dann doch eher vom Körper (āsana) über den Atem (prāṇāyāma) zu den Bewusstseinstechniken (pratyahāra, dhāraṇa, dhyāna) und schließlich zuletzt zur Erleuchtung (samādhi).
Das eigene Wesen verwandeln
Sri Aurobindo betont innerhalb dieses Verwandlungsprozesses die Vielschichtigkeit der Ebenen und Wesensteile des Menschseins (II. Abschnitt) und erläutert diese Wesensteile anhand dem System der cakra:
Im Prozess dieses Yogas hat jedes Zentrum (Chakra) einen bestimmten psychischen Zweck und eine Aufgabe allgemeiner Art, die die Grundlage all ihrer besonderen Einflüsse und ihres Wirkens bilden. Muladhara beherrscht das psychische Bewusstsein, bis hinab ins Unterbewusste. Das Unterleibszentrum Svadhisthana beherrscht das niedere Vitale. Das Sonnengeflechtszentrum, Nabhipadma oder Manipura, beherrscht den größten Teil des Vitals. Das Herz-Chakra, Hridpadma oder Anahata, beherrscht das Gefühlsleben. Das Kehlkopf-Chakra, Vishuddha, beherrscht das Ausdrucks- und Äußerungsvermögen des Mentals. Ajnachakra, das Zentrum zwischen den Augenbrauen, beherrscht den lebendigen Denkvorgang im Mental, das Wollen, die Schau, die mentale Gestaltung. Der tausendblättrige Lotus darüber, Sahasradala, ist Herr über das höhere denkende Mental, beherbergt das noch höhere erleuchtete Mental und öffnet sich als höchstes der Intuition, durch die das Übermental mit allem übrigen Verbindung oder unmittelbare Berührung haben kann, soweit diese nicht durch Überströmen zustande kommt.² S. 19/20
Sri Aurobindo hat seine Schriften in englischer Sprache verfasst und gewisse begriffliche Neuschöpfungen kreiert, um seinen Vorstellungen einen adäquaten Ausdruck verleihen zu können. Allein von daher sind seine Texte nicht einfach zu verstehen. Man muss sich nach und nach in die Terminologie und vor allem in den Sprachfluss eingewöhnen. Ein solcher mit einem neuen Inhalt belegter Begriff ist derjenige der Übergabe: Sri Aurobindo versteht darunter ein vollkommen bewusstes Sich-Überantworten derjenigen Kraft, die von oben, das heißt aus einer göttlichen Ebene in den Menschen einströmen möchte. Diese Form der Übergabe, des Sich anheimgeben und öffnen (III. Abschnitt) ist auf dem Weg des Yoga und der inneren Verwandlung ein notwendiges Element.
In den Anfangsstadien des Sadhana – und darunter verstehe ich eine kurze Zeitspanne – ist Anstrengung unerlässlich. Natürlich ist Übergabe das Entscheidende, aber sie lässt sich nicht an einem Tag bewältigen. Das Mental hat seine eigenen Gedanken und hält an ihnen fest. Das menschliche Vital widersetzt sich der Übergabe, denn was es in den Anfangsstadien des Yogas Übergabe nennt, ist eine fragwürdige, unter Vorbehalt erfolgende Hingabe. Das physische Bewusstsein gleicht einem Stein, und was es mit Übergabe bezeichnet, ist nichts anderes als Trägheit. Nur das psychische Wesen weiß um die richtige Übergabe. Aber das psychische Wesen ist anfangs noch sehr hinter Schleiern verborgen. Sobald es erwacht, kann es zu einer plötzlichen und echten Übergabe des ganzen Menschen kommen, denn alles, was sonst Schwierigkeiten bereitet, lässt sich dann leicht auflösen und zum Verschwinden bringen. S. 38
Die Arbeit nicht vernachlässigen
Es ist also eine Anstrengung vonnöten auf dem integralen Yogapfad. Denn der Sadhaka, der Yoga-Praktizierende, flieht nicht aus seinen weltlichen Verpflichtungen, er behält die äußere Arbeit (IV. Abschnitt) vielmehr bei, während er aber zugleich eine innere spirituelle Arbeit, ein Sadhana, aufgreift und von diesem aus nach und nach das äußere, alltägliche Leben mit einem neuen Sinn durchdringt:
Die Arbeit beizubehalten, dient dazu, das Gleichgewicht zwischen innerer Erfahrung und äußerer Entwicklung zu wahren. Sonst kommt es zu Einseitigkeit, und es kann erforderlich werden, das richtige Verhältnis und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Es ist weiterhin notwendig, die Sadhana der Arbeit für das Göttliche aufrecht zu erhalten, weil dies letzten Endes den Sadhaka instandsetzt, den inneren Fortschritt in die äußere Natur und das äußere Leben zu übertragen, und dazu beiträgt, dass die Sadhana alles erfasst. S. 59
Trotzdem das Büchlein gerade einmal 76 Seiten umfasst, ist es also durchaus gehaltvoll und es macht wenig Sinn, es in einem Zug durchzulesen und dann als „gelesen“ auf die Seite zu legen. Die Inhalte wollen nach und nach aufgenommen, reflektiert und dann auch in der Praxis des Alltags angewendet werden. Yogapraktizierende jeden Niveaus finden darin aber eine sehr anregende Vertiefung, die davor bewahrt, in ein zu mechanisches oder evtl. auch zu sportlich verstandenes Üben abzugleiten.
Spiritueller Wert 5/5
Praktischer Wert 2/5
Anmerkungen:
(1) Ein ähnlicher Gedanke eines Weges von oben nach unten findet sich wieder in den Schriften von Heinz Grill, siehe z. B. Die Vergeistigung des Leibes, Lammers-Koll-Verlag 2004.
(2) Auf Wikipedia sind die verschiedenen Wesensteile des Menschen und die verschiedenen Bewusstseinsebenen nach Aurobindo sehr gut zusammengefasst dargestellt.
Sri Aurobindo, Licht auf Yoga, Taschenbuch, 76 Seiten, Aquamarin Verlag 2012, ISBN 978-3894277147.
Das Buch ist online auch als Kindle Ausgabe erhältlich, z. B. bei folgenden Anbietern: Amazon.at, derbuchhaendler.at, Thalia.at