Blanche Rachel Mirra Alfassa oder Mira Alfassa (21.Februar 1878 – 17.November 1973) ist eine spirituelle Lehrerin und spirituelle Gefährtin von Sri Aurobindo Ghose. Dieser führte für sie den Titel „Die Mutter“ (The Mother) ein. Als solche übernahm sie im Alter von 44 Jahren die Leitung seiner Hausgemeinschaft und später des Ashrams. Sie war außerdem verantwortlich für die Gründung der Ortschaft Auroville im indischen Distrikt Pondicherry.
Mirra Alfassa war von Jugend an spirituellen Fragen zugetan und hatte bereits bemerkenswerte innere Erfahrungen gemacht, als sie mit 36 Jahren das erste Mal Sri Aurobindo begegnete. Sie ist das lebendige Beispiel für den von Sri Aurobindo entwickelten „Integralen Yoga“, indem sie aktiv an ihrer inneren Transformation arbeitete und sich zugleich tatkräftig den vielfältigen Anforderungen des Lebens stellte.
Wichtige Stationen im Leben von Mirra Alfassa
Herkunft und Kindheit
Sowohl die Mutter Matilde Ismalun als auch der Vater Maurice Alfassa waren Abkömmlinge jüdischer Bankiersfamilien. Jedoch war die Mutter in Ägypten aufgewachsen und der Vater in der Türkei. Ein Jahr vor ihrer Geburt ließen sich die Eltern von Mirra zusammen mit ihrem älteren Bruder Matteo in Paris, Frankreich, nieder. Dort lebten sie in der Nähe der Großmutter mütterlicherseits Mira Ismalun, die sich seinerzeit als eine der ersten ägyptischen Frauen selbständig ins Ausland begeben hatte.¹ Mit der Großmutter teilt Mirra nicht nur den Namen, sondern diese hat auch einen wesentlichen Einfluss auf ihre Erziehung in den ersten Jahren. So kommt es, dass sie zwar mit 7 Jahren Lesen und Schreiben kann, aber erst mit 9 Jahren eine Schule besucht. Von dem Alter von 5 Jahren an hat Mirra des Weiteren lebendige Erinnerungen an ihre kosmische Herkunft, worüber sie aber zu niemandem spricht.
Jugendzeit und erstes Erwachsenenalter in Frankreich
Ab ihrem 12. Lebensjahr setzen bewusstere innere spirituelle Erfahrungen ein und Mirra beginnt mit geistigen Übungen. Spiritualität ist tatsächlich das hauptsächliche Interesse des jungen Mädchens. Darüber hinaus interessiert sie sich für Musik, Malerei und Mathematik und bekommt ab dem 14. Lebensjahr Kunstunterricht bei dem Maler Gustave Moreau (französischer Symbolismus). Dort lernt sie den Kunststudenten Henri Morisset kennen, den sie im Alter von 19 Jahren heiratet. Aus der Ehe geht der Sohn Andrè (1898) hervor.
Ihre wohl bedeutendste Begegnung während dieser Zeit hat sie mit Max und Alma Théon, den Begründern des „Mouvement Cosmique“ (Kosmische Bewegung). Dreimal (1906/07) reist sie zu den beiden zu Studienaufenthalten nach Algerien. Dort erwirbt sie sich anhand der von Alma Théon auf mediale Weise empfangenen Lehren Kenntnisse über das menschliche Bewusstsein, die den Inhalten ähneln, welche sie später bei Sri Aurobindo kennenlernen sollte. Im Jahr 1908 lassen Henri Morisset und Mirra Alfassa sich scheiden und Mirra lebt für eine kurze Periode alleine in Paris. In den Kreisen um Max Théon hat sie Paul Richard, einen ehemaligen Soldaten kennen gelernt, der sich nun für Philosophie und Theologie interessiert. Im Jahr 1910 stimmt sie seiner Bitte zu, ihn zu heiraten, damit er von der Verpflichtung zum Kindesunterhalt aus seiner früheren Ehe frei werden könne.²
Erste Ankunft in Indien und die Kriegsjahre
Paul Richard hat auch politische Ambitionen und reist im Jahr 1914 mit Mirra nach Indien, wo er hofft, in den Senat der französischen Kolonie Pondicherry (offizieller Name heute „Puducherry“) gewählt zu werden. Dort macht er seine Frau mit Aurobindo Ghose bekannt, mit dem er bereits zu einem früheren Zeitpunkt zusammen getroffen war. Mirra war im Alter von 21 Jahren auf die Bhagavad Gita aufmerksam gemacht worden mit dem Hinweis, in Krishna das Göttliche im eigenen Inneren zu sehen. Von ihrem 26. Lebensjahr an erschien ihr im Traum eine Gestalt, die sie in vielen ihrer alltäglichen Handlungen führte und die sie „Krishna“ nannte. Nun, im Moment der Begegnung mit Sri Aurobindo, erkennt sie in ihm die Gestalt ihrer Träume und wird von einer tiefen inneren Stille ergriffen. Nachdem Paul bei den Wahlen verloren hat, entwirft er für Sri Aurobindo die Idee, eine Zeitschrift zur Publikation seiner Texte zu gründen. Die erste Ausgabe der „Arya“ erscheint am 15.August 1914, jeweils in englischer und französischer Sprache. In den nächsten sechseinhalb Jahren schreibt Sri Aurobindo viele Artikel für die Zeitschrift, die dann später zu mehreren verschiedenen Büchern zusammen gefasst werden.
Als der erste Weltkrieg ausbricht, verlangen die Briten von den Franzosen, dass Sri Aurobindo und alle Personen seines Kreises nach Algerien ausgesiedelt werden, da er von den Briten wegen seiner früheren Beteiligung beim Kampf für die Unabhängigkeit Indiens nach wie vor als „unsichere“ Person eingestuft wird. Zum Glück für Sri Aurobindo gelangt die ihn betreffende Aufforderung in die Hände des Bruders von Mirra, Matteo Alfassa, der einen Ministerposten im von Frankreich besetzten Afrika innehat und das Papier im Schreibtischstapel unbearbeiteter Anfragen verschwinden lässt.³ Paul und Mirra Richard hingegen müssen auf Drängen der Briten Indien verlassen. Sie kehren zunächst nach Frankreich zurück, um im Folgejahr 1916 nach Japan aufzubrechen, wo Paul von der französischen Regierung eine Anstellung als Handelsvertreter erhalten hat. Dort verbringen sie vier relativ friedliche Jahre, während derer Mirra sich in das Wissen und die Heiligtümer des Buddhismus vertieft. Außerdem pflegen sie indische Kontakte und kehren im Jahr 1920 nach Pondicherry zurück.
Zusammenarbeit mit Sri Aurobindo
Paul bleibt nicht lange bei der Hausgemeinschaft, sondern macht sich zu einer Pilgerreise nach Nordindien auf. Ein Jahr später lässt er sich von Mirra scheiden und kehrt in den Westen zurück. Über England kommt er in die Vereinigten Staaten, wo er im Jahr 1968 verstirbt.4 Für Mirra beginnt eine intensive Zusammenarbeit mit Sri Aurobindo. Im Jahr 1922 – Mirra ist nun 44 Jahre alt – bittet er sie, die Führung über alle Angelegenheiten der Hausgemeinschaft zu übernehmen. Fortan wird sie auf seine Initiative hin von allen „Mother“ genannt. Für die 24 Mitglieder der Gemeinschaft, hauptsächlich junge gebildete Inder aus der Umgebung von Pondicherry, ist es anfangs nicht leicht, sich der Führung einer Dame aus dem Westen einzuordnen.5 Sri Aurobindo jedoch ist in diesem Punkt ganz klar und wiederholt einige Jahre später:
„Ich habe nicht die geringste Absicht, die Vorgaben, die ich für alle Schüler ohne Ausnahme gemacht habe, zu verändern und gemäß derer sie über die Mutter und nicht direkt über mich das Licht und die Kraft empfangen sollen. Von ihr sollen sie in ihrem spirituellen Fortschritt geführt werden. Diese Vorgabe habe ich nicht irgendwie provisorisch getroffen, sondern weil es das einzig wahre und wirksame Mittel ist angesichts dessen was sie ist und was ihr Vermögen ist.“6
Von 1926 an lebt Sri Aurobindo vollkommen zurück gezogen, wobei er dennoch intensivst am Weltgeschehen teilnimmt. Auch steht er mit seinen Schülern über unzählige Briefe in regem Kontakt.
Als nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs so manche der unabhängigkeitsbestrebten Inder mit Hitler sympathisieren, weil dieser gegen die Briten vorgeht, erklären Mirra und Sri Aurobindo öffentlich ihre Unterstützung für die Allierten Kräfte. Der Krieg lähmt die Aktivitäten in der mittlerweile zu einem umfangreichen Ashram angewachsenen Gemeinschaft und das neu entworfene Gäsetehaus Golconde kann deshalb erst im Jahr 1947 nach zehnjähriger Bauzeit fertig gestellt werden. Im Jahr 1943 kommt jedoch eine internationale Schule für die Kinder der Ashrambewohner zu den Einrichtungen hinzu. 1945 kommt auch André Morisset, der inzwischen 47-jährige Sohn von Mirra, zu Besuch.
Die Zeit nach dem Tod von Sri Aurobindo
Als Sri Aurobindo am 5.Dezember 1950 verstirbt, ist die Mutter 72 Jahre alt und im Ashram halten sich ständig etwa 750 Personen auf. Im selben Jahr erlangt die Indische Republik ihre Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht. Damit wird Pondicherry indisches Territorium und die Mutter nutzt die Möglichkeit, die doppelte Staatsbürgerschaft zu beantragen, um ihre innige Verbundenheit mit dem Land Indien zum Ausdruck zu bringen.7 Der indische Premierminister Pandit Nehru sucht sie im Jahr 1955 zweimal auf und beim zweiten Besuch ist auch seine Tochter Indira Gandhi mit dabei. Die Mutter macht einen tiefen Eindruck auf die zukünftige Premierministerin und zwischen den beiden Frauen entspannt sich ein intensives Vertrauensverhältnis.
Die Mutter erteilt den Kindern und Jugendlichen im Ashram Französisch-Unterricht und nutzt die Stunden, um Texte von Sri Aurobindo zu diskutieren. Aus den Aufzeichnungen dieser Gespräche entsteht das umfangreiche Werk „Mutters Agenda“ in 13 Bänden.
Bis kurz vor ihrem Tode wird sie nun weiterhin den Ashram in der gemeinsamen Vision führen, dass durch die gelebte Realisierung des Integralen Yoga der Grundstein für den Menschen der Zukunft gelegt wird. Die Mutter selbst erfährt weitere Schritte innerer Transformation, aber auch Anfechtungen, die sie bis an den Rand des Todes führen. Es ist das Jahr 1962, als sie im Alter von 84 Jahren einen inneren Kampf mit einem Wesen führt, das sich als Sri Aurobindo ausgibt. Nach mehreren Monaten heftigen inneren Ringens erlebt sie vom 24.Juli 1962 an über zwei Tage hinweg die von Sri Aurobindo für alle Menschen angestrebte Herabkunft des Supramentalen Bewusstseins.
Das hohe Alter
Am 28.Februar 1968, im 90. Lebensjahr der Mutter, kommen Menschen aus 124 verschiedenen Ländern zur Grundsteinlegung der Stadt Auroville zusammen. Diese war von ihr von langer Hand erdacht, geplant und vorbereitet worden und sie selbst liest in einer Direktübertragung des Indischen Rundfunks die 4 Punkte der Gründungsurkunde vor:8
- Auroville gehört niemandem im besonderen. Auroville gehört der ganzen Menschheit. Aber um in Auroville zu leben, muss man bereit sein, dem Göttlichen Bewusstsein zu dienen.
- Auroville wird der Ort des lebenslangen Lernens, ständigen Fortschritts und einer Jugend sein, die niemals altert.
- Auroville möchte die Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft sein. Durch Nutzung aller äußeren und inneren Entdeckungen wird Auroville zukünftigen Verwirklichungen kühn entgegenschreiten.
- Auroville wird der Platz materieller und spiritueller Forschung für eine lebendige Verkörperung einer wirklichen menschlichen Einheit sein.
Dieser Moment, bei dem ein lang gehegter Plan zur Realisierung kommt und die Idee eines zukünftigen Menschseins im Dienst des Supramentalen Bewusstseins einen sichtbaren Raum erhält, könnte man als Ziel- und Höhepunkt des Lebens von Mirra Alfassa interpretieren. Jedenfalls beginnt bald darauf für sie eine Zeit, in der sie immer weniger spricht.9 Im April 1973, in ihrem 95. Lebensjahr kommt sie noch einmal selbst auf den Balkon ihres Hauses, um sich den Gästen und Mitgliedern der Gemeinschaft zu zeigen. Kurze Zeit später verliert sie die Kontrolle über den Körper. Im August dieses Jahres zeigt sie sich zum letzten Mal in der Öffentlichkeit. Am 17.November 1973 steht ihr Herz still und der Arzt stellt den Tod fest.
Der Integrale Yoga
Obwohl Mirra Alfassa in Sri Aurobindo ganz klar ihren spirituellen Meister erkannte, betonte dieser wiederum, dass ohne sie sein Werk in der Welt nicht möglich gewesen wäre.10 Der Integrale Yoga ist in der Summe das Werk von ihnen beiden gemeinsam. Mit dem Integralen Yoga steht eine ganz neue Interpretation des klassischen Yogapfades vor der Welt. Sri Aurobindo hat zum Beispiel den Begriff Ashram vermieden, denn die Gemeinschaft sollte kein Rückzugsort im traditionellen Sinn sein, sondern der sich in geistigen Dingen Übende sollte mitten im Leben und seinen Anforderungen beheimatet bleiben. Sehr schön kommt dieser Gedanke in der Frage zum Ausdruck, die Mirra Alfassa ihm bei ihrer ersten Begegnung stellte:11
«„Soll man Yoga praktizieren, das Ziel erlangen und dann die Arbeit mit anderen beginnen oder soll man sofort alle diejenigen, die dasselbe anstreben, um sich versammeln und zusammen zu diesem Ziel vorangehen?“ Aufgrund meiner früheren Bestrebungen und all meiner Versuche kam ich mit dieser klar formulierten Frage zu Sri Aurobindo. Denn es gab die beiden Möglichkeiten: Entweder man praktiziert ein intensives Sadhana (geistige Übungen), indem man sich von der Welt zurück zieht, das heißt, dass man keinen Kontakt mit anderen mehr hat, oder man lässt es zu, dass sich die Gruppe auf natürliche und spontane Weise bildet und verhindert ihr Entstehen nicht. Man lässt es zu, dass sie von selbst entsteht und alle gemeinsam begeben sich auf den Pfad. – Nun, die Entscheidung war letztlich keine mentale Angelegenheit, sondern erfolgte spontan. Die Gruppe bildete sich in einer Weise, in der sie zu einer gebietenden Notwendigkeit wurde. Und so, wenn du einmal damit begonnen hast, musst du den Weg auch bis zum Ende gehen.»
Mehr zum Integralen Yoga nach Sri Aurobindo.
Literaturhinweise
Mirra Alfassa, Agenda der Supramentalen Aktion auf der Erde: Mutters Agenda 1951 – 1960, Band 1, Institut für Evolutionsforschung 2013, ISBN 978-3910083516
In englischer Sprache: The Mother, Questions and Answers 1955, Sri Aurobindo Ashram Trust, (QA)
Georges Van Vrekhem, Mutter – Die Geschichte ihres Lebens: Die Biographie, Aquamarin Verlag 2016, ISBN 978-3894277611
Wilfried Huchzermeyer, Die Mutter – Eine Kurzbiografie, edition sawitri 2002, ISBN 978-3931172183
Renate Börger, Auroville – Eine Vision blüht, connection Verlag 1993 (AUR), Titel der dritten aktualisierten Auflage: 35 Jahre Auroville – Eine Vision in Arbeit, connection Verlag 2004, ISBN 3928248014
Herbert Eisenschenk, Experiment Auroville: Leben auf eigene Gefahr, Grubbe Media Verlag 2016, ISBN 978-3942194211
Weblinks
Sehr ausführliche englische Wikipediaseite, https://en.wikipedia.org/wiki/Mirra_Alfassa
Auszüge aus dem 6.Kapitel der Biographie von Georges Van Vrekhem (in englischer Sprache), https://www.collaboration.org/2000/spring/text/mother.htm
Ausführlicher und chronologischer Lebenslauf (aus dem Italienischen übersetzt), https://www.sriaurobindoyoga.it/madre_cronologia_essenziale.htm (SRI)
Video mit der Botschaft der Mutter vom 31.Dezember 1954, wobei sie zwei Antworten von Sri Aurobindo auf Fragen seiner Schüler rezitiert, https://www.youtube.com/watch?v=EVbxdYpNKko
Kurzes Video anlässlich der Einweihung ihrer Räume an den New Horizon Sugar Mills aus dem Jahr 1961 (schöne Aufnahme der 83-jährigen Mutter), https://www.youtube.com/watch?v=lB-BEe_-PUE
Videoaufnahme des Darshan der Mutter vom 24. April 1973, 7 Monate vor ihrem Tod, https://www.youtube.com/watch?v=u4vQVio_iF8
Wikepedia über Max Théon, https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Th%C3%A9on
Anmerkungen:
(1) s. Vrekhem 2004, S. 4-7
(2) s. Vrekhem, 2004, S.88
(3) s. Vrekhem 2004, S.174/75
(4) s. Vrekhem 2004, S. 215/16
(5) s. Vrekhem, 6.Kapitel
(6) SRI
(7) SRI
(8) AUR, S.73
(9) SRI
(10) SRI
(11) QA, Band 7, S.414
Bildnachweise (20-02-09):
Mirra Alfassa, Sri Aurobindo, Wikipedia, Di Govinda Wang – Opera propria, CC BY-SA 4.0
Max Théon, World Religions and Spirituality, https://wrldrels.org/2018/02/09/cosmic-movement/
Mirra Alfassa, Paul Richards und japanische Freunde, Wikipedia, By Unknown , http://www.aurobindo.ru/images/00001/00163_m_e.htm,%20Public%20Domain,%20
Mirra Alfassa im hohen Alter, Wikipedia, By Henri Cartier Bresson, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=44956597