Rezension des Erstlingswerkes von Sören Kierkegaard, dem dänischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert.
Mit diesem Buch überschreite ich etwas den mir selbst gesteckten Rahmen, Bücher aus den Bereichen Yoga, Spiritualität und Meditation zu rezensieren. Vielleicht könnte man das Buch im weitesten Sinn der Spiritualität zuordnen, da es sich um Betrachtungen der ethischen, ästhetischen und empfindenden Seite des Lebens handelt. Wie viele andere seiner Werke hat Kierkegaard das Buch unter einem Pseudonym herausgegeben und er schildert im Vorwort ausführlich eine fiktive Eingangsgeschichte, wie er als der Herausgeber Victor Eremita zu den beiden abgedruckten Schriftsammlungen gekommen sei.
Er nennt sie „Papiere von A“ und „Papiere von B“, die wiederum Briefe an A enthalten. Diese beiden unterschiedlichen Personen A und B stellen Betrachtungen zu den Themen der Liebe, der Tragik, der Trauer, des Erotischen und viele andere zwischenmenschliche Erfahrungen an. Teils sind es nur kurze Notizen, teils sind es Briefe, ganze Abhandlungen, ein Lustspiel oder das auch als separate Veröffentlichung existierende „Tagebuch des Verführers“.
Wahrheit soll auch erbaulich sein
Als Poet, Philosoph und Theologe sind die Gedanken von Sören Kierkegaard hohen Idealen gewidmet und so ist sein Werk tatsächlich eine „erbauliche“ Literatur im besten Sinne des Wortes: Der Leser wird sich am Fluss der Gedanken, an der Schönheit der Sprache und an der Vornehmheit der Inhalte erfreuen und wird doch den konkreten Realitätsbezug nicht vermissen. Dieses innere Anliegen, erbauliche Literatur zu verfassen, äußert Kierkegaard selbst am Schluss seines Werkes:
Hemme nicht deiner Seele Flug, betrübe nicht das Bessere in dir, ermatte deinen Geist nicht mit halben Wünschen und halben Gedanken. Frage dich, und höre nicht auf zu fragen, bis du die Antwort findest; denn man kann eine Sache viele Male erkannt, sie anerkannt haben, man kann eine Sache viele Male gewollt, sie versucht haben, und doch, erst die tiefe innere Bewegung, erst des Herzens unbeschreibliche Rührung, erst sie vergewissert dich, dass das, was du erkannt hast, dir gehört, dass keine Macht es dir rauben kann; denn nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich. (S. 932f)
Wesentlicher Text im ersten Teil ist eine Abhandlung über die Oper Don Juan von Mozart mit dem vielversprechenden Titel „Die unmittelbaren erotischen Stadien oder das Musikalisch-Erotische.“ Diese Thematik klingt in den weiteren Schriften immer wieder an, so wenn er die literarischen Frauengestalten Marie Beaumarchais, Donna Elvira und Gretchen psychologisch betrachtet oder ein Lustspiel über die erste Liebe verfasst.
Der zweite Teil von Person B ist kürzer und ist im Gehalt weniger leidenschaftlich, mehr nüchtern reflektierend, z.B. über die ästhetische Gültigkeit der Ehe oder über das Erbauliche, das in dem Gedanken liegt, dass wir gegenüber Gott immer unrecht haben. In diesen frühen Jahren ist Kierkegaard noch ganz konform mit der protestantischen dänischen Staatskirche. In seinen Schriften setzt er sich dennoch sehr gründlich mit der Rolle der Kirche auseinander und so drängt sich ihm – als literarische Gestalt eines Bräutigams – zum Beispiel die Frage auf:
Was ist das für eine Macht, die sich zwischen mich und meine Braut zu drängen wagt, die Braut, die ich selbst gewählt habe und die mich gewählt hat? Und diese Macht will ihr befehlen, mir treu zu sein, braucht sie denn einen Befehl?
Der Leser bemerkt in diesem zweiten Teil die Nöte, die in argumentatorischer Hinsicht entstehen, will man das kirchliche System positiv und aufrichtig in die Betrachtungen integrieren. An manchen Stellen lässt sich der Eindruck nicht verwehren, dass gewisse gedankliche Verrenkungen notwendig sind, damit die Kirche als solche in gutem Licht dastehen kann. Literarisch ansprechender ist deshalb viel mehr der erste Teil des Buches.
Philosophisches Denken als Vorstufe zur Meditation?
Das philosophische Denken und Betrachten als Grundstil Kierkegaards könnte man durchaus als eine Art sinnvolle Vorstufe für eine Meditations-Aktivität anschauen. In den modernen sehr vereinfachten Meditationsstilen fehlt eine solche Schulung des Denkens leider vollständig. Im klassischen Buddhismus und auch im klassischen Yoga ist sie durchaus noch enthalten. Dort wird nicht nur meditiert, sondern es werden Schriften studiert, deren Inhalte dann wieder in die meditative Aktivität einfließen.
Vielleicht können wir hier im Westen deshalb die großen Philosophen unter diesem Aspekt neu entdecken, als Vorreiter und Vorbereiter für die Meditation, die schließlich ein vertieftes „Herzensdenken“ darstellt. Sören Kierkegaard ist meines Erachtens für spirituell Suchende eine durchaus empfehlenswerte Literatur. Ein Kommentar von Niels Thulstrup hilft dem zeitgenössischen Leser beim Verständnis einiger ungewöhnlicher Begrifflichkeiten.
Der Buchtitel Entweder – Oder ist übrigens die Überschrift zu einem „ekstatischen Vortrag“, der folgendermaßen beginnt (S.49):
Heirate, du wirst es bereuen; heirate nicht, du wirst es auch bereuen; heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen; entweder du heiratest oder du heiratest nicht, du bereust beides. Lache über die Torheiten der Welt, du wirst es bereuen; weine über sie, du wirst es auch bereuen;…
usw. noch einige Punkte folgend. Da kann man natürlich nur schmunzeln über so viel Lebensweisheit!
spiritueller Wert 4/5
praktischer Wert 2/5
Das Buch ist online erhältlich über Amazon.at. Bei derbuchhaendler.at ist hingegen eine kritische Ausgabe mit Aufsätzen verschiedener Autoren zu den jeweiligen Kapiteln Kierkegaards erhältlich. Thalia.at wiederum listet acht unterschiedliche Bücher, die sich auf das vorliegende Werk Kierkegaards beziehen. Mit dabei ist die aktuellste Gesamtausgabe aus dem Jahr 2014, die für 0,99 € als ebook erhältlich ist.
Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, 1040 Seiten, dtv-Verlag 2005, ISBN 978-3423133821.