Zweiter Teil der Ausführungen zum Selbstverständnis des Kundalini Yoga.
In dem Büchlein „Kundalini-Yoga“ von M. P. Pandit folgen detaillierte Beschreibungen der unterschiedlichen Wesensglieder des Menschen wie der geistige Körper, der feinstoffliche Körper und der physische Körper, die Sinne und die fünf Elemente, aus denen sich der physische Körper zusammensetzt: Erde, Wasser, Luft, Feuer und Äther. Der individuelle Mensch kann sich mit seinem Bewusstsein in verschiedenen Zuständen aufhalten wie Traumzustand, Wachsein und Tiefschlaf. Darüber hinaus gibt es noch höhere, mehr geistige Bewusstseinsformen, die höchste geistige Bewusstheit wird shiva-Bewusstsein genannt.
Ein Mantra ist eine Kraft in Lautform
M. P. Pandit betont nun im folgenden Kapitel über die mantra, welche wichtige Rolle diese im Kundalini Yoga spielen. Die spezielle Philosophie der mantra gibt tatsächlich einen wichtigen Aufschluss über das indische Denken. Es wird nämlich sehr genau eine Reihenfolge aufgeschlüsselt, wie der Laut, in Sanskrit shabda, unterschiedlichen Manifestationsformen unterliegt und wie diese Manifestationsformen mit dem Menschen in Verbindung sind.
Die Kundalini Shakti, also die Schlangenkraft ist nach diesen Erläuterungen nichts anderes als der manifestierte kosmische Urlaut in seiner noch unbewegten Form. Dieser Urlaut beginnt sich „mit einer ganz allgemeinen, nicht näher bestimmten Bewegung zu regen.“ Im Menschen zeigt sich diese erste Lautregung in der Zone vom unteren Ende der Wirbelsäule bis etwa auf Höhe der Magengrube. Auf Herzenshöhe äußert sich dieser Urlaut in konkreterer Form: Es ist der Laut des menschlichen Denkvorgangs, mit dem ein Objekt betrachtet und als inneres Abbild erfasst wird. Und erst in einem vierten Schritt, auf Höhe des Kehlkopfes, wird der Laut zur physischen Lautäußerung über die menschliche Sprache.
Somit fasst M. P. Pandit das Prinzip des mantra zusammen:
Die geäußerte Sprache offenbart somit die innere Sprache, die Idee oder Gedanke ist. Dieser innere Denkvorgang ist eine Leistung des Bewusstseins, die ihren Ausdruck im gesprochenen Wort findet. Hinter dem gesprochenen Wort steht die Macht der Idee; diese wird durch das Wort in die grobe Ausdrucksform übertragen. Unter günstigen Umständen versetzt das ausgesprochene Wort diese Bewusstseinskraft in Tätigkeit…Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das bloße Hersagen oder Wiederholen des mantra nicht wirkungsvoll sein kann. Das hinter dem mantra stehende Bewusstsein, seine wahre Kraft, muss erweckt sein, bevor es wirken kann.
Jedes Ding hat einen Keimlaut, ein bija-mantra
Jeder materiellen Erscheinung liegt also nach dieser Philosophie ein Urlaut wie ein darin enthaltener Same (bija) zugrunde. Im System der cakra sind diese Urlaute von den indischen Weisen erforscht worden. Ein cakra ist so viel wie ein im menschlichen Körper befindliches kosmisches Wirkungsfeld. Es gibt 6 Haupt-cakra und zahlreiche Neben-cakra. Die Haupt-cakra sind wie eine Lotusblüte, die sich noch nicht entfaltet hat, entlang der Wirbelsäule gelagert. In ihrem Wirkungsfeld aber erstrecken sie sich auf bestimmte Körperzonen. Das erste cakra, Wurzelzentrum (muladhara-cakra) genannt, ist beispielsweise am unteren Ende der Wirbelsäule gelagert, während sich sein Kraftfeld in die Zone zwischen Anus und Geschlechtsorganen erstreckt. Ein siebtes Haupt-cakra befindet sich am Scheitelpunkt des Kopfes, das sogenannte Kronen-cakra. Das bekannteste aller mantra, der Urlaut OM, wird dem 6. cakra zugeordnet, während das mantra des Kronen-cakra „shivoham“ (ich bin Shiva) lautet.
Für die Frage nach der kundalini-shakti, der Schlangenkraft, ist es außerdem von Interesse, dass die verschiedenen cakra durch feine Energiekanäle (nadi) untereinander verknüpft sind. Der wichtigste von diesen Energiekanälen heißt sushumna-nadi und verläuft am Rückenmark entlang. Das Wurzel-cakra ist sowohl die Wurzel der sushumna-nadi als auch zugleich der Ruheort der kundalini-shakti.
Ist ein cakra grobstofflich-physisch oder feinstofflich-energetisch?
M. P. Pandit fährt mit einer ausführlichen Beschreibung der cakra fort, indem er die Anzahl der Blütenblätter, die enthaltenen mantra, die entsprechenden geometrischen Formen, die Farben und die zugehörigen Gottheiten (devata) mit ihren Eigenschaften nennt. Gottheit ist allerdings in diesem Zusammenhang ein etwas irreführender Begriff. Im Folgenden möchte ich deshalb einen meines Erachtens sehr wichtigen Abschnitt zitieren, der zu einem besseren Verständnis zu dem Phänomen der cakra verhilft. Die unterschiedlichen Eigenschaften der cakra können stattdessen relativ einfach im Internet aufgefunden werden, weshalb ich sie nicht extra aufführe.
Man versuchte, die Chakras mit den Geflechten des grobstofflichen Körpers zu identifizieren. Das ist jedoch irreführend, denn letztere sind dem groben Stoffkörper zugehörig, wohingegen die Chakras als überaus subtile Vitalzentren für die verschiedenen tattvischen (= kosmischen, Alina) Wirkkräfte zu gelten haben. Sie beeinflussen, kontrollieren und regen die entsprechenden Körperzonen mit den darin gelegenen Organen, Nerven und Geflechten an. Tatsächlich sind es diese subtilen Bewusstseinskräfte, die in ihrer grobstofflichen Form den Körper bilden und erhalten. Jedes der Chakras hat eine Gottheit, ein bestimmtes Bewusstseinszentrum, das über es gebietet. Dieser Bewusstseinsaspekt, Devata, beherrscht die umliegende Körperzone. Außer den verschiedenen Körperzonen hat der Organismus als ganzes ein eigenes selbständiges Bewusstsein, den Jiva (= individuelles Selbst, Alina).
Die Begriffe cakra, kosmisch gesteuertes Bewusstseinsfeld im Körper, und jiva, individuell gesteuertes Bewusstsein, werden im Folgenden noch eine wichtige Rolle spielen, wenn es um den genauen Verlauf des kundalini-Prozesses geht.
Teil I Was ist eigentlich Kundalini Yoga?
Teil II Der Kundalini Yogi als lebendig Befreiter im Selbst
Teil III Kundalini Yoga als höchster Yoga
Teil IV Ist die Kundalini Shakti zerstörerisch oder segensvoll?
Teil V Bericht eines Kundalini-Yoga-Schülers
Textquelle:
M. P. Pandit, Kundalini-Yoga, Drei-Eichen-Verlag, 3. Auflage 1985, ISBN 3-7669-0440-0
Bildquellennachweis (18-01-25):
de.wikivoyage.org, shri-yoga-devi.org, tiefenimagination.net