Was ist die Vipassana-Meditation?
Satya Narayan Goenka (1924 – 2013) , der die sogenannte Vipassana-Meditation in ihrer jetzigen Form für westliche Interessierte bekannt gemacht hat, schilderte auf einem Vortrag in Bern in der Schweiz einige zentrale Gedanken:
“Jeder sucht Frieden und Harmonie. Im normalen Leben fehlt es meist an beidem. Jeder ist von Zeit zu Zeit unruhig, irritiert, unharmonisch oder leidend. Und wer sich in so einer negativen Phase befindet, behält diese Stimmung nicht für sich, sondern verbreitet die Misere in seiner ganzen Umgebung. Bei jedem Kontakt mit anderen wird ein Teil der Irritation, der Spannung und des Frustes übertragen. Dies ist sicherlich nicht die rechte Art zu leben.
Man sollte in Frieden mit sich selbst und mit allen anderen leben. Der Mensch ist schliesslich ein soziales Wesen. Man lebt in der Gesellschaft und muss sich mit den anderen auseinandersetzen. Die Frage ist, wie kann man in Frieden leben, wie harmonisch in sich ruhen, wie Frieden und Harmonie in seinem Umfeld aufrechterhalten?
Man ist unruhig. Um die Unruhe zu überwinden, muss man den Ursprung der Unruhe, die Ursache der Unzufriedenheit kennen. Eine sorgfältige Untersuchung des Problems zeigt, dass Irritation und Unruhe immer dann erscheinen, wenn Negativität oder Unreinheit den Geist bestimmen, denn Negativität kann mit Frieden und Harmonie nicht zusammen existieren.
Ablenkung durch positives Denken
Weise und Heilige in Indien und anderswo haben dieses Problem studiert und eine Lösung gefunden: Wann immer man auf etwas Ungewolltes mit Ärger, Furcht oder sonst einer Negativität reagiert, sollte man sich sofort ablenken: die Aufmerksamkeit auf etwas anderes richten, z.B. aufstehen, ein Glas Wasser holen und trinken. So vervielfältigt sich der Ärger nicht und vergeht. Oder man kann anfangen zu zählen: 1, 2, 3, 4 oder ein Wort, einen Satz, vielleicht ein Mantra, immer wieder wiederholen – was gut geht mit dem Namen einer verehrten Gottheit oder eines verehrten Heiligen. Durch diese Aktivitäten wird der Geist abgelenkt, und man kommt zu einem gewissen Grad aus dem Ärger, der Irritation heraus.
Diese Lösung half früher und hilft auch heute noch. Jeder, der sie anwendet, beruhigt sich. Aber diese Lösung funktioniert nur auf der bewussten Ebene des Geistes. In Wirklichkeit schiebt man die Negativität durch die Ablenkung tiefer ins Unbewusste, wo sie ihr Eigenleben entwickelt. An der Oberfläche hat sich eine Schicht von Frieden und Harmonie gebildet, aber in der Tiefe liegen wie schlafende Vulkane diese unterdrückten Negativitäten, die von Zeit zu Zeit in gewaltigen Ausbrüchen explodieren können.
Beobachtung geistiger Unreinheiten
Andere, die die innere Wirklichkeit erforscht haben, gingen in ihrer Suche tiefer und erkannten im eigenen inneren Erleben der Realität von Geist und Körper, dass Ablenken nur ein Weglaufen vor dem Problem ist. Flucht ist keine Lösung, man muss sich dem Problem stellen. Man muss sich jeder auftauchenden Negativität entgegenstellen. Man muss sie beobachten. Jede geistige Unreinheit verliert an Stärke, sobald man sie beobachtet. Sie klingt ab und verschwindet.
Diese Lösung vermeidet die beiden Extreme: entweder etwas zu unterdrücken oder aber ihm freien Lauf zu lassen. Die Negativität im Unbewussten zu bewahren, löst sie nicht auf, und sie in Worten und Taten auszuleben, führt zu neuen Problemen. Einfaches Beobachten hingegen führt dazu, dass die Unreinheit schwächer und schwächer wird und schliesslich ganz verschwindet — man ist von ihr befreit.
Das hört sich wunderbar an, aber ist es auch praktikabel? Aufsteigender Ärger zum Beispiel überwältigt uns, ehe wir uns dessen gewahr werden und während der Ärger uns in seiner Gewalt hat, lassen wir uns leicht zu Äusserungen oder Handlungen hinreissen, die uns selbst und anderen schaden. Später, wenn der Ärger abgeklungen ist, bedauern wir, was wir getan haben, bereuen es und bitten Gott oder jene betroffene Person um Verzeihung: “Oh, ich habe einen Fehler gemacht. Ich bitte um Entschuldigung.” Aber wenn wir dann irgendwann wieder in eine ähnliche Situation geraten, reagieren wir wieder auf dieselbe Weise. Bereuen und Klagen hilft uns nicht weiter, ganz und gar nicht.
Vipassana heißt Konzentration auf den Atem und auf die Empfindungen
Einer, der die letzte Wahrheit, die vollkommene Erleuchtung erreicht hatte, fand eine praktizierbare Lösung des Problems. Er entdeckte, dass immer, wenn eine Negativität im Geist entsteht, sich gleichzeitig zwei Dinge auf der körperlichen Ebene abspielen. Zum einen verliert der Atem seinen normalen Rhythmus: Wann immer eine Negativität im Geist auftaucht, wird der Atem härter, unruhiger — das kann jeder leicht an sich selbst beobachten. Zum anderen beginnen auf subtilerer Ebene biochemische Vorgänge im Körper abzulaufen, die sich als diese oder jene Empfindung wahrnehmen lassen. Jede Beunruhigung des Geistes ruft die eine oder andere Empfindung im Körper hervor.
Eine praktikable Lösung war gefunden. Eine aufsteigende Negativität abstrakt zu beobachten — abstrakte Angst, Wut oder Leidenschaft – ist äusserst schwierig. Aber mit etwas Schulung und Übung ist es leicht, die Begleiterscheinungen des Problems zu erkennen und zu beobachten: den Atem und die Empfindungen im Körper, beide stehen in direktem Zusammenhang mit den geistigen Unreinheiten. Die Atmung und die Empfindungen werden mir auf zweierlei Weise helfen. Sobald eine Unreinheit im Geist auftaucht, verliert mein Atem seinen normalen Rhythmus und wird mir zurufen: “Achtung, hier stimmt was nicht!” In gleicher Weise werden mir die Empfindungen anzeigen, dass etwas schiefgelaufen ist. So gewarnt, kann ich anfangen, meinen Atem, meine Empfindungen zu beobachten, und die Unreinheiten werden sehr schnell vergehen.
Dieses geistig-körperliche Phänomen ist wie eine Münze, die zwei Seiten hat. Auf der einen Seite sind all die Gedanken und Emotionen, die im Geist auftauchen. Auf der anderen Seite sind der Atem und die Empfindungen im Körper. Jeder Gedanke, jede Emotion — bewusst oder unbewusst — jede geistige Unreinheit manifestiert sich im Atem und der Empfindung dieses Moments. Indem ich die Atmung oder die Empfindungen beobachte, beobachte ich daher indirekt die geistigen Unreinheiten. Anstatt vor dem Problem davonzulaufen, stelle ich mich der Wirklichkeit, wie sie ist. Dann werde ich feststellen, dass die Unreinheit ihre Kraft verliert: sie kann mich nicht mehr überwältigen, wie sie es in der Vergangenheit tat. Wenn ich beharrlich weiterarbeite, wird diese Unreinheit schliesslich ganz vergehen und meinen Frieden und meine Ausgeglichenheit nicht mehr stören können.
Ziel der Vipassana-Meditation: Befreiung des Geistes von Unreinheiten
Je mehr man diese Technik der Selbstbeobachtung praktiziert, desto klarer, desto deutlicher merkt man, wie schnell man sich von einer bestimmten Unreinheit lösen kann. Nach und nach wird der Geist von allen Unreinheiten befreit. Er wird rein und klar, und ein reiner Geist verströmt Liebe, uneigennützige Liebe für andere, ist stets voller Mitgefühl für die Fehler und Leiden anderer, voller Freude über ihre Erfolge und ihr Glück und bewahrt Gleichmut gegenüber jedweder Situation.
Das Verhaltensmuster eines jeden, der dieses Stadium erreicht hat, ändert sich völlig. Für so einen Menschen ist es unmöglich, etwas zu sagen oder etwas zu tun, das den Frieden oder die Harmonie anderer stört. Er wird nicht nur mit sich selbst in Frieden und Harmonie leben, sondern auch anderen helfen, Frieden zu gewinnen. Die gesamte Atmosphäre um eine solche Person ist von Frieden und Harmonie durchdrungen und beeinflusst alle, die in ihren Umkreis kommen.
Selbsterkenntnis durch Anschauung
Es ist also notwendig, sich selbst zu erkennen — ein Rat, den alle Weisen gegeben haben. Aber es reicht nicht aus, Selbsterkenntnis nur auf intellektueller Ebene zu erlangen, auf der Ebene von Ideen und Theorien. Gemeint ist hier auch nicht das Wissen, das auf der gefühlsmässigen Ebene gewonnen wird und sich auf Glauben und Vertrauen gründet — blindlings glauben, weil man etwas gehört oder gelesen hat, ist nicht genug. Man muss die Realität auf der wirklichen Ebene kennenlernen. Man muss die Realität des eigenen Geist-Körper-Phänomens direkt erfahren. Nur diese eigene Erfahrung hilft, aus den Unreinheiten, aus dem Leiden herauszukommen.
Diese unmittelbare Erfahrung der eigenen Realität, diese Technik der Selbstbeobachtung wird Vipassana-Meditation genannt. In der Sprache Nordindiens, die zu Lebzeiten des Buddha gesprochen wurde, bedeutete das Wort passana “sehen”, auf ganz normale Weise, mit offenen Augen, vipassana jedoch heisst, auf eine besondere Weise zu schauen, nämlich die Dinge so zu betrachten, wie sie wirklich sind, und nicht, wie sie zu sein scheinen. Die scheinbare, oberflächliche Wahrheit muss durchdrungen werden, bis man zur letzten Wahrheit bezüglich des Geist-Körper-Phänomens gelangt. Wenn man diese Wahrheit erlebt, lernt man, die blinden Reaktionen zu unterbinden und keine neuen Unreinheiten mehr entstehen zu lassen, wodurch Raum geschaffen wird, die alten Unreinheiten schrittweise abzubauen. In dem Masse, wie sie abgebaut werden, wird man von seinen Miseren befreit.
Ein universeller Ansatz individuell angewendet
Dies kann von jedem praktiziert werden. Jeder muss sich mit bestimmten Leiden auseinandersetzen. Es ist eine universelle Krankheit, die eines universellen Heilmittels bedarf, nicht eines, das an bestimmte Konfessionen oder Weltanschauungen gebunden ist. Wenn man an Ärger leidet, ist das nicht buddhistischer, christlicher, islamischer oder jüdischer Ärger. Ärger ist Ärger, und die aus dem Ärger resultierende Unruhe ist ebenfalls weder christlich noch buddhistisch. Das Übel ist universell, also muss auch das Heilmittel universell sein.
Vipassana ist ein solch universelles Heilmittel. Niemand wird etwas gegen einen Satz von Lebensregeln sagen, die den Frieden und die Harmonie aller Mitmenschen respektieren. Niemand wird etwas gegen geistige Selbstbeherrschung einwenden. Niemand wird etwas dagegen haben, Einsicht in die eigene Realität zu entwickeln, Einsicht, durch die man zur letzten Wahrheit über Geist und Körper vordringen und den Geist von Negativitäten befreien kann. Vipassana ist ein universeller Pfad, kein Kult, kein Dogma, kein blinder Glaube.
Die Realität zu betrachten, wie sie wirklich ist, indem man die Wahrheit im Inneren anschaut, das heisst, sich selbst auf der wirklichen Ebene, der Ebene tatsächlichen Erlebens zu erkennen. Durch regelmässige Ausübung der Technik kommt man nach und nach aus dem durch die Unreinheiten verursachten Leiden heraus. Von der groben, offensichtlichen Wahrheit dringt man zu feineren und feineren Wahrheiten vor, bis man zur letztendlichen Wahrheit von Geist und Materie gelangt. Transzendiert man auch diese, erlebt man eine Wahrheit, die jenseits von Geist und Materie, Raum und Zeit, jenseits des Bedingten und Relativen liegt: die Wahrheit vollkommener Befreiung von allen Unreinheiten, allem Leiden. Welchen Namen man dieser letztendlichen Wahrheit gibt, ist irrelevant – sie ist das letzte Ziel aller, die Erfüllung der menschlichen Suche.”
Auszug mit Kürzungen übernommen aus: https://www.dhamma.org/de/about/art
Bildquellen der Reihenfolge der Bilder nach (17-07-22): dhammarakita.net, kunstnet.de, naturfotografen-forum.de (Copyright Dirk Vorbusch), Wikipedia