Der im Jahr 2008 verstorbene Religionswissenschaftler und Theologe Carl A. Keller hat in einem bisher nur im Internet veröffentlichten Artikel die Ursprünge und den Charakter des Zen-Buddhismus sehr anschaulich und informativ dargestellt. Im folgenden gebe ich eine stark gekürzte Zusammenfassung seines Artikels wieder:
Der Begriff zen leitet sich von dhyana ab
Dass im Zen Stille geübt wird, ist an sich nicht verwunderlich. Dem Wortsinn nach ist Zen ja nichts anderes als Meditation ; denn das Wort zen, abgeleitet von sanskrit dhyāna, über vulgär-indisch jhāna und chinesisch tchàn, bedeutet « Meditation ». In der Meditation wird ganz allgemein geschwiegen, es herrscht Stille. Lärm stört den Meditierenden. Doch diese Stille ist immer gefüllt, es ist dichte Stille, bewusst gelenkt auf eine bestimmte Ausrichtung hin….Und abgesehen von der stillen Meditation, wird im Zen doch auch sehr viel geredet : es werden regelmässig heilige Schriften rezitiert, und alle Zen-Meister haben ihre Schüler unterrichtet und haben, so wie seinerzeit der Buddha Shakyamuni, gepredigt. Diese Predigten sind unsere Quellen zum Verständnis des Zen. …
Zen ist buddhistische Meditation, ist wesentlich bestimmt durch die dogmatischen Voraussetzungen des Buddhismus. Dies muss eingangs betont werden, da Zen, wie wir noch sehen werden, oft missverstanden wird als eine über-religiöse, undogmatische Meditationstechnik. Zen ist gewachsen innerhalb der buddhistischen Traditionen und wird immer Buddhismus bleiben. … Unsere erste Aufgabe wird also darin bestehen, uns zu vergegenwärtigen, worum es im Buddhismus geht.
Wesen und Sein des Erwachten (Buddha)
In den ältesten uns überkommenen Dokumenten wird betont, ein Buddha sei im Grunde ein unfassbares Wesen. ..Der Erwachte, wahres Sein jedes Buddhisten, lebt in der Welt, und ist doch nicht von der Welt ; er weilt im Unendlichen, im Unbestimmbaren, ist selber unendlich und unfassbar ; er hinterlässt keine Spur und wird nicht zu neuem Leben drängen. Völlig ungebunden, in der Welt und doch nicht in der Welt, schwebt er gewissermassen im leeren Raum…
Die Buddhas leben im weglosen Raum und sie legen keinen Wert auf ihr körperliches Sein. Dafür aber zeichnen sie sich, … innerhalb der unbeständigen, sich ohne Aufhören verändernden Welt dadurch aus, dass sie « kein Schwanken » kennen. … Es gilt, in der als « leer », als unbestimmbar, als « zeichenlos » erfahrenen Welt, darin lebend und davon distanziert, die totale Freiheit eines « So-Gekommenen-und-Gegangenen » zu verwirklichen.
Wahre Erkenntnis ist notwendig zur Erlangung der Freiheit
Und das ist möglich, wenn der Jünger des Buddha die wahre Erkenntnis besitzt, d.h. prajñā (sanskrit). Prajñā ist der eigentliche buddhistische Zentralbegriff, der auch im Zen die entscheidende Rolle spielt. Es ist prajñā, was den wahren Buddhisten als solchen kennzeichnet. Gewöhnlich wird prajñā, etwas irreführend, mit « Weisheit » wiedergegeben… prajñā ist absolutes, von allen Beziehungen gelöstes Erkennen aller Dinge, unter Aufhebung der Dualität von Subjekt und Objekt.
Das Diamant-Sutra und das Herz-Sutra
In den späteren buddhistischen Lehrtexten, sūtra genannt, wird prajñā als höchste der sechs « Vollkommenheiten », pāramitā, also als prajñā-pāramitā ausführlich behandelt. Das « vollkommene absolute Erkennen », ist die Frucht von fünf vorausgegangenen Vollkommenheiten : Gabe, ethisches Benehmen, Geduld, Willenskraft und dhyāna, « Meditation ». prajñā-pāramitā ist die direkte Frucht der vollkommenen Praxis, vor allem der Meditation, dhyāna, « zen » – in der späteren Zen-Tradition werden Zen und prajñā, Meditation und Erkennen, eng verbunden, ja ohne weiteres identifiziert : Zen/dhyāna und prajñā bilden ein unlösbares Ganzes.
…Durch prajñā-pāramitā wird also die wesenhafte Natur und absolute Wahrheit der Daseinselemente, und damit zusammenhängend der gesamten anthropologischen Erkenntnis des Buddhismus, in Frage gestellt. Sie hat nur vorläufige Wirklichkeit, als Behelfsmittel zum Leben in der empirischen Welt, als Weg zur Erlangung der eigentlichen Wahrheit, d.h. der Erlösung aus dem Irrtum. Konsequenterweise erweisen sich im Anschluss an diese Feststellungen auch die übrigen Grunddogmen des Buddhismus als ungültig, ja als nicht bestehend, weil leer. …
In diesen wichtigen, zeitlich dem Zen vorausgegangenen Texten ist das Zen-Geschehen bereits aufs knappste zusammengefasst. Es geht darum, in der Meditation (dhyāna=zen) normales Sein und Bewusstsein so zu gebrauchen, dass ihre Leerheit, und damit ihre Vorläufigkeit offenbar werden. Dies ist das Ziel des Zen. Zenisten sagen darum : wenn man erwacht ist, tötet man den Buddha, den Erwachten, der nichts anderes war und ist als Führer zum Ziel.
Bodhidharma hat den Zen nach China gebracht
Zen baut auf diesen alten Traditionen auf und hat so eine lange Vorgeschichte. Entsprechend haben die Zenisten ihr Tun und Erkennen auf eine lange Traditionskette zurückgeführt, die – wie zu erwarten – beim historischen Buddha Shakyamuni ihren Anfang nimmt. Sie haben eine Liste von 28 indischen « Patriarchen » aufgestellt, in welcher die grossen Namen buddhistischen Denkens erscheinen wie Nagarjuna (2./3. Jh.) und Vasubandhu (4./5. Jh.), deren letzter ein gewisser Bodhidharma gewesen sein soll. Dieser Bodhidharma, so die Tradition, habe Indien verlassen und den Zen nach China gebracht. Er sei somit der erste von sechs chinesischen Patriarchen geworden.
Historisch kann über diesen Bodhidharma nicht viel ausgesagt werden. Hingegen schreibt ihm die Zen-Tradition vier Grundsätze zu, die immer wieder von Zenisten zitiert und als Quintessenz des Zen betrachtet werden. Es sind die folgenden :
a. Direkt auf den wahren ursprünglichen Geist zielen.
b. Des Menschen (Buddha-)Natur sehen und sein Buddha-Sein verwirklichen.
c. Eine besondere Weitergabe, jenseits der (traditionellen) Schriften.
d. Sich nicht auf Worte verlassen.
Die Grundsätze c und d scheinen eine direkte, wortlose Übermittlung der Wahrheit zu verlangen und den Gebrauch von Worten und autoritativen Schriften zu verwerfen. Vertreter des Zen erzählen gerne Anekdoten, etwa wie der Buddha seinem Schüler Kāshyapa die wahre Erkenntnis übermittelt habe, indem er ihm wortlos eine Blume zeigte und dieser sich vor ihr verneigte. …
Die Überlieferung vom Meister zum Schüler ist unentbehrlich
Wäre also Zen eine wortlose Tradition ? Manche meinen es. Zen wird oft gerühmt als eine von allen Dogmen, Lehren, heiligen Büchern und Unterweisungen freie, wort- und bildlose Meditationstechnik. Doch werden, wie schon erwähnt, in allen Zen-Klöstern in liturgischen Feiern regelmässig die wichtigsten Sutren rezitiert – das Herz-Sutra kennt vermutlich jeder Zen-Mönch auswendig –, und die Zen-Meister haben immer ihren Schülern gepredigt, ihnen mündlich Richtlinien gegeben und Anfänger und Fortgeschrittene unterrichtet. Ohne Wortüberlieferung von Meister zu Schüler, und von als neue Meister vom Meister anerkannten Schülern zu neuen Schülern ist keine authentische Meditationslinie denkbar.
Die beiden erwähnten Grundsätze verlangen, dass man sich nicht auf die Texte verlasse, so heilig und unentbehrlich sie auch sein mögen, sondern dass man vor allem auf die unmittelbare Transmission der Wahrheit durch einen authentischen Meister achte. Das ist keineswegs eine besondere Originalität der Zen-Tradition : alle verinnerlichten, « mystischen » Traditionen betonen die Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit, eines Meisters, vor allem für die Weitergabe der Erkenntnis. …
Im Grunde ist jeder Mensch bereits ein Erwachter
Die ursprüngliche, durch das Vergessen verdeckte Natur des Menschen besteht darin, ein Erwachter zu sein, einer, der um die Leerheit aller Daseinsfaktoren, aller Worte und aller Lehren und seiner selbst weiss, der diese Leerheit ist, der in seinem wahren Sein weder entsteht und geboren wird, noch als Individuum lebt und vergehen wird. Im Zen wird dieses wahre Buddha-Sein im Anschluss an andere buddhistische Traditionen gerne als « Geist » bezeichnet. Es ist der « Geist », der sich in der Meditation reinigt, sich von allen Belastungen und Belästigungen befreit, so zu prajñā-pāramitā wird, zu absoluter, in jeder Hinsicht gelöster, absolut freier Erkenntnis, und der so seine Buddha-Natur verwirklicht….
Auch wenn die vier Grundsätze des Zen nicht von einem historischen Bodhidharma stammen sollten, so geben sie doch treffend das Wesen dieser Tradition wieder : die direkte Initiation durch den Meister, aufgrund adäquater innerer Bereitschaft des Schülers.
Hui-neng lehrt das plötzliche Erwachen
Entscheidend für die endgültige Gestaltung des Zen wurde der sechste chinesische Patriarch, Hui-neng, 638-713. Er war eine historische Persönlichkeit… Er war ein Meister, dessen Lehre, Ansprachen und Begegnungen mit Suchenden, uns dank ihrer Wiedergabe durch seine Schüler zugänglich sind. Hui-neng ist vor allem bekannt als Künder eines « plötzlichen Erwachens », im Gegensatz zu andern Buddhisten, die einem allmählich fortschreitenden, « graduellen » Erwachen den Vorzug gaben… Die Kontroverse zwischen den Verteidigern des plötzlichen und des graduellen Erwachens, zwischen der « südlichen » und der « nördlichen » Schule, hat sich in der buddhistischen Welt während Jahrhunderten hingezogen. …
Das plötzliche Erwachen bedingt Arbeit des Schülers an sich selber. Der Schüler muss das Seine tun, bevor ihm das Geschenk des Erwachens zuteil wird, und muss auch nachher weiter an sich arbeiten. Er muss die ethischen Prinzipien des Buddhismus respektieren und sein äusseres Leben danach richten, muss die Schriften eifrig studieren, vor allem das Diamant-Sutra. Hui-neng wird nicht müde, seine Schüler zu ermahnen, keine Mühe zu scheuen um in sich die richtige Voraussetzung zu schaffen. « Alles hängt von euch ab ! » ruft er ihnen zu. Wenn sie dann dem Meister die richtige Frage stellen und dieser ihnen das entscheidende Wort mitteilt, wird ihnen das « plötzliche Erwachen » zu Teil.
Die Leere ist kein leerer Raum
Im Zusammenhang mit unserem Thema « Schweigen und Leere im Zen » ist besonders bedeutsam, dass der eigentliche Begründer des Zen vehement gegen eine falsche, ketzerische Art zu meditieren polemisiert :
“Gelehrte Zuhörer, wenn ihr mich über die Leere reden hört, so dürft ihr nicht in den Irrtum verfallen, die Leere sei ein leerer Raum. Das wäre die ketzerische Lehre von der Verneinung aller Dinge. Wenn einer sich einfach niedersetzte und in seinem Geiste alles verneinte, wäre dies eine Leere, entstanden durch Gleichgültigkeit.
Gelehrte Versammlung, die grenzenlose Leere des Universums ist fähig, Myriaden von Dingen verschiedener Art und Gestalt in sich zu vereinigen, wie Sonne, Mond, Sterne, Flüsse, Welten, Quellen, Bäche, Gebüsche, Wälder, gute und schlechte Menschen, Güte und Bosheit, die Welt der Götter, Höllen, Ozeane und die höchsten Berggipfel. Der äussere Raum umfasst dies alles, und ebenso steht es um die Leere unserer Natur….
Drei mögliche Fehlentwicklungen
…Im zitierten Abschnitt warnt der Meister seine Schüler vor drei möglichen Fehlentwicklungen.
a. Angesichts der Schwierigkeiten der Praxis kann es bei einer rein intellektuellen Beschäftigung mit der Theorie der Leere bleiben : « Sprecht nicht immer von der Leere, ohne sie zu verwirklichen ! » Blosses Reden führt nirgendwo hin und ist nichts als müssige Unterhaltung. Es kommt aufs Tun an, die Theorie muss Praxis sein, die Leerheit muss Leben sein.
b. Die Leere darf nicht hypostatisiert werden, sie ist nicht ein Absolutes, vor allem nicht leerer Raum. Wenn sie das wäre, stände man vor einem blossen Nihilismus, und dieser ist für Hui-neng das Gegenteil der Wahrheit. Darum will er nicht den Eindruck wecken, « Leere » sei für ihn der einzig wichtige Begriff, der keiner weiteren Erklärung bedürfe….
c. Die dritte Warnung war offenbar damals wie heute aktuell : manche Anhänger begnügten sich damit, im Zen-Sitz (za-zen) nichts anderes zu tun, als alle Gedanken und Gefühlsbewegungen abzulegen, nichts zu denken, und so in sich ein gedankliches Vakuum zu schaffen. Für Hui-neng ist dies nicht nur « unvernünftig », sondern « ketzerisch », eine schlimme Abweichung von der Wahrheit. Denn die prajñā-pāramitā-Leere ist etwas ganz anderes….
Die Gefahr, sich mit falsch verstandener Beruhigung zu begnügen
Es sei uns in diesem Zusammenhang ein kleiner Exkurs erlaubt. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die von Hui-neng abgelehnte alles verneinende Meditation, die das Erfahren einer tiefen Stille bezweckt, auf den inneren Menschen beruhigend wirkt und auch den Körper völlig entspannt. Daher ihre Popularität in der gehetzten, unruhigen Modernität. Vermutlich haben indessen die Zeitgenossen von Hui-neng, welchen dieser Ketzerei vorwirft, ihr Tun mit der buddhistischen Tradition begründet. Buddhistische Meditation besteht nämlich aus zwei Elementen oder Etappen, die sich ergänzen und die der Buddhist nicht auseinanderreissen sollte : aus « Beruhigung », śamatha, und « Einsicht » (in die wahre Natur des Menschen), vipaśyana (pali : vipassana). Alle historischen Lehrer des Buddhismus haben betont, dass man nicht mit Hoffnung auf Erfolg zur « Einsicht » schreiten kann, ohne vorherige « Beruhigung », die gewissermassen das Mittel ist für die Erlangung von « Einsicht ». Die von Hui-neng apostrophierten « Ketzer » haben sich mit einer falsch verstandenen « Beruhigung » begnügt. … Für Hui-neng ist « Beruhigung » identisch mit prajñā-pāramitā. Mit prajñā-pāramitā gewinnt er nämlich « Einsicht » in die Natur des Geistes ….
Hui-neng erwartet von seinen Schülern stetige Anstrengung im Blick auf prajñā-pāramitā und Einsicht. Man gewinnt den Eindruck, dass diese Tätigkeit mit Sicherheit schliesslich zum « plötzlichen Erwachen » führt. Dem ist indessen nicht so. Die Berichte über seine Begegnungen mit genügend (oder auch ungenügend) vorbereiteten Schülern zeigen, dass seine Person mit ihrem Sagen den entscheidenden Anstoss gibt. Oft bekennt ein Schüler, dass er trotz ernster Bemühung das Erwachen nicht errungen habe. Daraufhin spricht der Meister ein klärendes Wort, oft in Form eines Gedichtes, und der Fragende ist erwacht. Ohne es ausdrücklich zu sagen, respektiert Hui-neng das Prinzip der direkten Übertragung der Wahrheit von Meister zu Schüler.
Gefahr der Verwässerung des Zen in der Gegenwart
… Ein Haupteinschnitt in der Entwicklung des Zen erfolgte im 20. Jh. durch die Propagierung, Verbreitung und Popularisierung des Zen im Westen, was zu mancherlei Adaptationen, Veränderungen – und Verwässerungen ! – führte. Östliche wie westliche Anhänger haben… hemmungslos buddhistische Zen-Erfahrung mit moderner und postmoderner Kultur vermischt, vor allem mit psychologischen Theorien. Eine Folge dieser transkulturellen Bestrebungen ist, unter anderem, die Banalisierung des Zen als « nicht-gegenständliche Meditation ». Von prajñā-pāramitā ist in diesen Kreisen kaum mehr die Rede….
Ein zufällig in der Schweiz weilender japanischer Kaufmann antwortete auf meine Frage nach dem Zen in Japan : « Zen ? das ist für Touristen ! ».
Carl A. Keller
Der Schweizer Carl A. Keller hat sich als Religionswissenschaftler besonders für die Mystik der großen Religionen interessiert. Auf seiner Webseite finden sich neben zahlreichen Artikeln in französischer Sprache – er war Professor an der Universität von Lausanne in der französischen Schweiz – noch zwei weitere sehr lesenswerte Artikel in deutscher Sprache: einer handelt über christliche Mystik und die Mystik der großen Religionen und der andere Artikel ist autobiographischer Natur.
Bildquellen (17-07-22):
Wikipedia, thetruthsoflife.com, deacademic.com, lol-rofl.com, (2x Quelle unbekannt), poese.org, Webseite von Carl A. Keller