Dritter Teil über Wesen und Bedeutung des Kundalini Yoga
In diesem dritten Teil über den Kundalini Yoga werde ich sehr viel aus dem Büchlein „Kundalini Yoga“ von M. P. Pandit zitieren. Dieser hat es unternommen, das fundamentale Werk über den Kundalini Yoga „Die Schlangenkraft“ von Sir John Woodroffe alias Arthur Avalon zusammenzufassen. In wenigen Sätzen benennt er Sinn und Ziel des Yoga allgemein:
„Jede Einzelseele ist ihrem Wesen nach die höchste Seele (paramatma), jedes Selbst ist Gott. Diese Identität wird jedoch durch die Illusion der Unwissenheit (maya-avidya) verschleiert und die Einzelseele scheint von Gott getrennt zu sein. Der Vorgang, durch den dieses Gefühl des Getrenntseins ausgeschaltet wird und die Einzelseele (jivatma) sich mit der höchsten Seele (paramatma) vereint, ist Yoga. Da das Gefühl der Trennung durch Nichtwissen (avidya) verursacht wird, so erlangt man die Verwirklichung dieser Identität durch wahres Wissen (vidya) oder Erkenntnis (jnana).“
Unterschiedliche Wege zur Erkenntnis
Nun kann man auf unterschiedlichen Wegen zu dieser Erkenntnis gelangen und so sind unterschiedliche Formen von Yoga entstanden. Allen Yoga-Arten liegt jedoch der achtgliedrige Stufenpfad, wie er von Patanjali zusammengefasst wurde, zugrunde: 1. Entwicklung von Tugenden, 2. Einhaltung bestimmter Lebensregeln, 3. Atemführung, 4. Körperübungen, 5. Rückzug der Sinne von den Objekten der Außenwelt, 6. Konzentration, 7. Meditation, 8. Erleuchtung.
Mantra Yoga wird von M. P. Pandit als leichtester Yoga benannt: Er nimmt eine Art Mittenstellung zwischen dem volkstümlichen religiösen Kult der Bilderverehrung als grobstoffliche Aktivität und der rein geistigen Konzentration auf das höchste Selbst ein, denn ein mantra ist bereits von feinstofflicher Natur. Es ist eine spezielle Klangform, die einen reinen Seelenzustand hervorruft. Die Kontemplation erfolgt durch das laute oder unhörbare unermüdliche Wiederholen eines vorgeschriebenen mantra. Dabei stellt man sich vor, dass ein mantra ein Klangäquivalent eines bestimmten kosmischen Bewusstseinsaspektes (devata) ist, der durch die Wiederholung erweckt wird.
Der Hatha Yoga ist von seinem Ursprung her danach ausgerichtet, dass die vitale Lebensenergie, prana genannt, in einem idealen Sinn zum einem ausgeglichenen Fließen und schließlich zu einem Höhersteigen im Nervenkanal der Wirbelsäule geführt wird. „Ha“ bedeutet Sonne und „Tha“ bedeutet Mond. Die Sonne steht für die aufsteigende Lebensenergie, der Mond für die absteigende Energie. Die Gegensätzlichkeit dieser Energien hält normalerweise das Leben im Menschen aufrecht. Pranayama, die Atemführung, bedeutet nun, den individuellen Atem in Harmonie mit dem kosmischen Hauch zu bringen. Aufgabe der Körperübungen sowie verschiedener Reinigungsübungen, wie z.B. das Reinigen der Nasenlöcher mit einem Tuch, ist es, pranayama zu erleichtern.
Raja Yoga ist nach diesen Beschreibungen derjenige Yoga, der den geistigen Fähigkeiten die Hauptbedeutung beimisst. Die Körper- und Atemübungen erhalten hier den Zweck, das Denkorgan zu beruhigen. Das zu erlangende samadhi, die Erleuchtung, heißt zugleich auch die vollkommene Loslösung von der Welt. Das kann so weit führen, dass dem Praktizierenden die Freuden der Welt zu einer Quelle des Elends werden. Dieser Gedanke findet sich auch bei den Mystikern in der europäischen Geistesgeschichte wieder. Der Praktizierende erwirbt die Fähigkeit, letzte Schlussfolgerungen zu ziehen und schult sein Denkorgan in strenger Disziplin, um das Endliche von dem Unendlichen zu unterscheiden.
Die Vereinigung von Shiva und Shakti im Kundalini Yoga
M. P. Pandit berichtet: „Die beiden Grundprinzipien der Schöpfung, das Bewusstsein selbst und das Bewusstsein als Kraft, shiva und shakti, finden sich in allen Formen des Universums ausgedrückt. Das reine Bewusstsein, shiva, hat im menschlichen Körper seinen Sitz im höchsten Gehirnzentrum, dem Kronen-cakra; die Bewusstseinskraft, shakti, sitzt im untersten Zentrum am Fuß der Wirbelsäule, dem Wurzel-cakra. Normalerweise befindet sich diese shakti im latenten Zustand und es sind ihre sekundären Manifestationen, die den Organismus erhalten, wie z.B. die verschiedenen Lebensenergien, prana. Das Ziel dieses Yoga ist es, diese ruhende Kraft zu wecken, sie zu beherrschen und mit dem höchsten, dem reinen Bewusstsein am Scheitel zu vereinigen, die Kraft des Körpers in die Kraft der Seele zu wandeln. Diese Vereinigung gipfelt in einer ekstatischen Erleuchtung, samadhi, in der der ganze Organismus von Wonne, ananda, durchflutet wird und das individuelle Bewusstsei eins wird mit dem Höchsten Bewusstsein, shiva.“
Man nennt die Bewusstseinskraft kundalini shakti, denn kundalini heißt „die Zusammengerollte.“ Bildhaft stellt man sich vor, dass shakti in Form einer dreieinhalbmal gewundenen Schlange am Fuße der Wirbelsäule liegt und mit ihrem Mund den Eingang zum Wirbelsäulenkanal verschließt. Der Vorgang ihrer Erweckung beginnt mit einer Konzentration auf prana, denn die Lebensenergie ist eine ihrer Manifestationen. Der genaue Vorgang muss von einem Guru erlernt werden, vorausgesetzt, dass der Schüler bereits ausreichend Erfahrung in den vorbereitenden acht Gliedern des Yoga erlangt hat.
„Der Schüler sitzt in einer vorgeschriebenen Yogaposition und festigt das Denkorgan durch Konzentration auf die Stelle zwischen den Augenbrauen. Luft wird eingesogen und der Atem wird angehalten; der obere Teil des Körpers wird zusammengezogen und die aufwärtssteigende Lebensenergie wird kontrolliert. Die so am Aufwärtssteigen gehinderte Luft sucht nach unten zu entweichen; dieses Fliehen als abwärtssteigende Energie wird ebenfalls kontrolliert durch entsprechendes Zusammenziehen des unteren Körperteils. Die auf diese Weise gesammelte Lebensenergie wird in Richtung auf das Wurzel-cakra gelenkt und Denkorgan und Wille sind darauf konzentriert. Aufgrund des Reibungsdrucks, der aufwärtssteigende und abwärtssteigende Energie fest zusammenhält, wird große Hitze erzeugt und das wiederum weckt die schlafende Schlange, kundalini, die sich daraufhin aufwärts bewegt.
Durch gedankliche Konzentration und mit Hilfe des mantra wird die flammenförmige individuelle Seele vom Herzen herab zum Wurzel-cakra geführt und sozusagen mit der erweckten shakti vereinigt und weiter voranbewegt. Sind die Windungen entrollt, so öffnet sich die Pforte am Eingang des Wirbelsäulenkanals und die kundalini wird durch die feinstofflichen Energiekanäle aufwärts geleitet.“
Im folgenden, vierten Teil soll nun der eigentliche Prozess des Hochsteigens der kundalini shakti und ihrer Rückkehr in das Wurzelzentrum betrachtet und von da aus die Frage vom Anfang aufgegriffen werden: Macht es heute noch Sinn, nach dem Aufsteigen der kundalini-Kräfte zu streben?
Die Verwandlung der Energiezentren durch die aufsteigende kundalini shakti
Diese präzise Beschreibung lässt bereits ahnen, dass mit einem solchen Vorgang nicht zu spassen ist. Tatsächlich geht es im weiteren Verlauf darum, die Lebensenergie aus den tausenden feinstofflichen Kanälen im Körper herauszuziehen und im zentralen Kanal in der Wirbelsäule zu konzentrieren. Damit ist der ganze Körper rechts und links der Wirbelsäule leblos. Dies kann mit einer Art Todesprozess verglichen werden. Es ist auch eine Erklärung für Phänomene, wie sie zum Beispiel bei Anandamayi Ma spontan aufgetreten sind: es wird von einem außergewöhnlichen Erkalten ihres Körpers während mancher ihrer Ekstasen berichtet.
Bei dem gewöhnlichen Schüler geht das Aufsteigen der kundalini shakti nicht ohne Schwierigkeiten vor sich, denn es bedeutet, die Welt der Illusion zu überwinden. Diese Illusion manifestiert sich vor allem in drei speziellen Knoten, von denen einer in den unteren Wirbelsäulenabschnitten liegt. Wenn die shakti diesen Knoten durchdringt, dann können sich beträchtliche Schmerzen, physisches Unwohlsein und sogar Krankheit zeigen. Die shakti erzwingt sich quasi den Weg nach oben durch diese Knoten.
Des weiteren berührt die Schlangenkraft nach und nach die verschiedenen Energiezentren. Diese haben die Form einer Lotusblüte mit einer unterschiedlichen Anzahl von Blütenblättern. Während im normalen Leben diese Blütenblätter regungslos nach unten hängen, werden sie nun von der Schlangenkraft belebt und erheben sich nach oben. M. P. Pandit zitiert im Folgenden den Bericht eines Geistschülers, der von seinem Meister angeleitet wird, die verschiedenen cakra zu durchdringen, auf Sanskrit cakra-bheda genannt.
Teil I Was ist eigentlich Kundalini Yoga?
Teil II Der Kundalini Yogi als lebendig Befreiter im Selbst
Teil III Kundalini Yoga als höchster Yoga
Teil IV Ist die Kundalini Shakti zerstörerisch oder segensvoll?
Teil V Bericht eines Kundalini-Yoga-Schülers
Zitate entnommen aus:
M. P. Pandit, Kundalini-Yoga mit ausführlicher Erläuterung der Chakras, Eine kurze Zusammenfassung der „Schlangenkraft“ von Sir John Woodrofffe, Drei-Eichen-Verlag München/Engelberg, 3. Auflage 1985, ISBN 3-7669-0440-0.
Bildquellennachweis (18-02-03):
blueportal.de-Autorin Brigitte Bussenius, indian-temples-history.ln, als.wikipedia.org,