Rezension der Einführung in christliche Spiritualität des Benediktinerpaters Anselm Grün.
Der Benediktinerpater Anselm Grün unternimmt es, in Taschenbuchform eine Möglichkeit christlicher Spiritualität aufzuzeigen. Das Buch enthält eine klare und übersichtliche Gliederung: Auf die Betrachtung der Begriffe “menschliche Reife” und “Spiritualität” erfolgt die Frage nach dem Ziel des Weges, nämlich ein ganzer Mensch zu sein. Im nächsten Kapitel geht es um die Hindernisse auf diesem Weg, weiter um Schritte der Verwandlung und schließlich um die Gestalt eines reifen Glaubens und im letzten Abschnitt um Übungen des Glaubens, die als Übungen im Sinne des Mensch-Werdens vorgestellt werden.
Die Quellen für die Ausführungen von Anselm Grün sind zum einen Texte der frühchristlichen Mönche und Wüsteneinsiedler und weiterhin die Tiefenpsychologie Carl Gustav Jungs. An vielen Stellen nennt er Beispiele aus seiner eigenen Erfahrung in der geistlichen und psychologischen Betreuung unterschiedlicher Personen. Den Begriff der Spiritualität umschreibt er im Sinne von Evagrius Ponticus, einem Mönchsschriftsteller aus dem 4. nachchristlichen Jahrhundert folgendermaßen:
Spiritualität bedeutete für ihn, dass sich der Mönch erst einmal mit den Leidenschaften seiner Seele beschäftigte und sein Inneres reinigte, um sich für Gott zu öffnen.
Willst du Gott erkennen, lerne vorher dich selbst kennen
Diesen Weg der inneren Reinigung und Selbsterkenntnis stellt Anselm Grün den Formen eines infantilen oder sogar neurotischen Glaubens gegenüber und nennt es “die Kraft eines reifen Glaubens.” Um im Folgenden zu beschreiben, was denn eigentlich “ein ganzer Mensch” ist, schildert er mehrere psychologische Modelle und ihr Verständnis vom Individuum. Auf dem Weg zu einem ganzen Menschsein stellen sich vor allem die Triebe entgegen und die Frage, wie mit ihnen umgegangen werden kann, wie sie in die Persönlichkeit integriert werden können.
Unter dem Begriff der “Verwandlung” fasst er im Folgenden die ehrliche Selbstbegegnung mit den fünf wesentlichen Bereichen des Lebens, die Gedanken und Gefühle, der Leib, die Träume, die Beziehungen zu den Mitmenschen und die Arbeit zusammen. Die eigentliche spirituelle Aktivität, wenn man es so nennen will, besteht nach Anselm Grün im “Gott entgegenhalten” aller persönlichen Eigenschaften, der Schwächen und der Stärken, ohne an sich selbst den Anspruch einer Vollkommenheit zu stellen. Gott selbst sei es dann, der die Verwandlung vornehme.
Wenn der Autor dann im letzten Kapitel die traditionellen christlichen Übungen wie Schriftstudium, Gebet und den Empfang der Sakramente als Möglichkeiten zur persönlichen Reifwerdung schildert, so gewinnen diese Elemente ebenfalls eine psychologische Interpretation. So sagt er zum Beispiel “Bibellesen ist immer etwas Subjektives” und das Gebet schildert er als ein Sich-Hinsetzen und alles, was hochsteigt, zu beobachten und Gott entgegenzuhalten.
Sich dem unbekannten Gott hinhalten
Wer sich mit der Meditation beschäftigt, wird in den Worten von Anselm Grün einige interessante psychologische Hinweise finden. Die Meditation, bzw. die Spiritualität selbst bleibt allerdings in einer ungreifbaren Dimension. Man hält sich Gott hin und wartet ab, was dieser mit einem machen wird. Der Begriff Gott wird dabei nicht konkretisiert, sondern bleibt in der für katholisch-christliche Autoren typischen Verschwommenheit.
Der Mensch auf dem Weg zu einem reifen Glauben nach Anselm Grün bemüht sich um die Integrierung der Schattenteile seiner Psyche. Das, was in östlichen philosophischen Schriften als göttlicher Anteil des Menschen (zum Beispiel im Begriff atman – individuelle Seele und paratman – ewige Weltseele) bezeichnet wird, gliedert Anselm Grün nach christlicher Tradition aus dem Menschen heraus und weist es einem unkonkreten und unnennbaren Gott zu. Insofern bezieht er sich zwar auf die urchristliche Spiritualität der Wüstenmönche. Als Autor steht er jedoch eindeutig in der gesamten späteren kirchlichen Tradition nach dem 9. Jahrhundert, als man begonnen hatte, die Dreigliedrigkeit des Menschen in einen Körper, Seele und Geist zu leugnen und dem Menschen nur noch einen Körper und eine Seele zusprach (siehe Konzil).
So eignet sich das Buch letztlich nur für diejenigen Personen, die das kirchlich geprägte unkonkrete Gottesbild mit dem Autor teilen.
Spiritueller Wert 2/5
Praktischer Wert 1/5
Anselm Grün, Spiritualität, Ein ganzer Mensch sein, Herder Verlag, überarbeitete Neuauflage 2011, ISBN 978-3-451-06339-8.
Das Buch kann online bezogen werden über Amazon.at, derbuchhaendler.at, buchkatalog.net.
Bildnachweis (17-11-26): Amazon, Ismaning-katholisch.de