Rezitation des mantra HAM, des Keim-mantra des 5. Energiezentrums, vishuddha chakra.
Die Silbe HAM ist mit einer der interessantesten Laute des Sanskrit-Alphabets. Dem Hauchlaut H, der als Mantra mit dem beschließenden nasalen M verknüpft wird, kommt in der Sanskritsprache eine tragende Bedeutung zu. Denn schließlich ist es der Laut des Sprechens selbst. So wie das LAM an der Basis der Wirbelsäule ertönt, das RAM in der Bauchnabelgegend, ist es das HAM, das im Kehlkopf selbst erklingt.
Sanskrit, die konkrete Sprache
In der Yogaliteratur spricht man von den 7 Wurzel- oder Keim-mantra, den bija mantra, die den 7 cakra zugeordnet werden. Dahinter verbirgt sich die philosophische Idee, dass die Entstehung der Welt eine Art Schwingungsprozess darstellt und dass sich das Schwingen und Vibrieren in bestimmten kosmischen Sphärentönen äußert. Da der Mensch als Mikrokosmos ein Abbild des großen Makrokosmos ist, trägt er auch unterschiedliche Schwingungszustände in sich, die mit den kosmischen Planetenschwingungen korrespondieren. (1)
Das ganze Alphabet der Sanskritsprache wurde aus diesen kosmischen Schwingungen herausgelesen und so kommt es, dass bestimmte Buchstaben eine besondere Affinität zu bestimmten Körperzonen aufweisen. Das in der jeweiligen Körperzone befindliche feinstoffliche cakra ist unter anderem ein Ausdruck eines konkreten Schwingungszustandes. Das Mantra HAM als Manifestation des Buchstaben H führt nun in die Region des Kehlkopfes, wo in der Nähe der Schilddrüsen das 5. cakra, vishuddha-cakra, lokalisiert ist.
Rudolf Steiner hat in einem Vortrag über Anthroposophie und Sprachwissenschaft auf diesen konkreten Charakter der Sanskritsprache hingewiesen (2):
„Wenn man Bezeichnungen in der Sanskritsprache vor sich hat, merkt man sehr bald, dass man darin das Erleben des Konsonantischen und des Vokalischen hat, man merkt, wie in der Tat ein innerliches Einleben in die äußeren Vorgänge und äußeren Dinghaftigkeiten da ist…“
So dass man die Frage stellen kann: in welchen äußeren Vorgang lebt man sich mit der Silbe HAM hinein?
Das mantra, das nicht gemurmelt wird
Eine Antwort gibt Sir John Woodroffe alias Arthur Avalon in seinem Werk „The garland of letters“ (Die Buchstabengirlande), das sich mit dem Mantra-Yoga befasst. Der Leser erfährt dort, dass die bija mantra der lautliche Ausdruck einer elementaren kosmischen Qualität sind, LAM steht demnach für das Erdelement, RAM für das Feuerelement und HAM steht für das Ätherelement. Doch was ist das Ätherelement? Im deutschen Sprachgebrauch gibt es nur vier Elemente, Erde, Wasser, Feuer und Luft.
Der Ton ist die Eigenschaft des Äther, aber er wird nicht vom Äther produziert, sondern er manifestiert sich darin.
Der Äther ist demzufolge die Schwingung selbst und als solches das Urelement, aus dem die anderen vier, mehr greifbaren Elemente hervorgehen.
In derselben Weise, wie im Außenraum die Luftbewegungen Töne erzeugen, so erzeugen sich Töne im Körper des Menschen aufgrund der Bewegung der Lebenskraft, prāṇa, und des Prozesses von Ein- und Ausatmung.
Der Hauchlaut HAM trägt nach John Woodroffe die Bezeichnung ajapa-mantra, d.h. „das Mantra, das nicht gemurmelt wird“, da es in der Aussprache eines jeden Wortes über den Atemprozess automatisch mit enthalten ist:
Der Mensch, der ein- und ausatmet, äußert ein großes Mantra. Das ist das ajapa-mantra oder haṁsaḥ, das deshalb das „ungemurmelte“ genannt wird, da es sich selbst auf natürliche Weise und ohne Anstrengung von seiten des Menschen wiederholt.
HAM, der Ursprung der Sprache
Denkt man dieses Bild weiter, so ergibt sich fast von selbst, dass der Laut H so etwas wie der ursprünglichste Laut ist, der den anderen Buchstaben vorausgeht. Man könnte sagen, so wie der Atemprozess Seele und Körper verbindet, so kleidet das Ham oder H die physisch auf dem materiellen Plan geäußerten Worte ein in einen kosmischen urbildlichen Hauch. Dem HAM liegt daher ein vornehmer, fast heiliger Charakter zugrunde und man erinnert sich an die biblische Schöpfungsgeschichte, wo Gott dem Menschen das Leben ein-h-aucht. Das HAM drückt also im weitesten Sinn das Entstehen von etwas Neuem aus, eine Art Neugeborenwerden aus den geistigen Welten herein in die irdische Welt.
Während der Laut A der häufigste Vokal im Sanskrit-Alphabet ist, der automatisch jeden Konsonant begleitet, so ist das H der häufigste Konsonant, der zur Charakterisierung der Hälfte aller übrigen Konsonanten beiträgt: so gibt es Buchstaben, die zum Beispiel DH, TH, CH, PH, BH, JH heißen.(3)
Praktische Gesichtspunkte
Bei der Rezitation des Mantra HAM kann die Aufmerksamkeit vorbereitend auf die Kehlkopf-Region erfolgen und man kann sich bewusst machen, dass die Menschen mit der Sprache schöpferisch tätig werden.(4)
Die Rezitation selbst erfolgt dann besser mit der Aufmerksamkeit nach außen in den Raum, wo sich die Schwingung des Tones formt. Der Rezitierende lauscht während der wiederholten Rezitation erwartungsvoll in den Raum hinein und macht sich bereit, das Hereintreten des Tones HAM aus der weiten kosmischen Sphäre aufmerksam entegegenzunehmen. Über die vielen Wiederholungen hinweg ermöglicht diese Haltung, dass persönliche Dominanzen zurücktreten und sich die im Laut enthaltene positive Schwingungssubstanz mit ihrem zarten belebenden und vornehmen Charakter zeigt.
HAM lehrt die Ehrfurcht vor der Sprache.
Textquellen:
(1) Sir John Woodroffe (Arthur Avalon), The Garland of letters: Studies in the mantra-sastra, Ganesh and Company 1998,ISBN 978-8185988122
(2) Rudolf Steiner, GA 81, Anthroposophie und Sprachwissenschaft, Vortrag vom 11. März 1922, ISBN 978-3727408106
(3) Ulrich Stiehl, Sanskrit-Kompendium, Books on Demand 2017, ISBN 978-3743173040
(4) handschriftliche Notizen aus Mantra-Seminarveranstaltungen mit unterschiedlichen Referenten